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Rückwärts zur Normalität

■ Politik und Gewerkschaft im nachrevolutionären Polen

KOMMENTARE

Mag man auch abgestoßen sein vom Autoritarismus des Mannes, erschreckt über seine Intellektuellenfeindlichkeit oder belustigt von seiner Großmannssucht: man sollte keinen Augenblick den Fehler machen, Lech Walesas Bedeutung für die Zukunft der polnischen „Rzeczpospolita“ zu unterschätzen. Seit er vor einigen Monaten den „Krieg an der Spitze“ gegen den eigenen Premier Mazowiecki eröffnete, hat er auf die Auflösung der Bürgerkomitees hingearbeitet, die er selbst 1989 als politischen Arm der Gewerkschaft Solidarnosc mitgeschaffen hatte. Seinem Hauptargument, der politische Pluralismus könne nur gedeihen, wenn die Bürgerkomitees ihre quasi-monopolistische Stellung im öffentlichen Leben verlören, ist eine gewisse Logik nicht abzusprechen - und hat die Spaltung der Bürgerkomitees in die rechts -nationalistische „Zentrums-Allianz“ und die links-liberale ROAD ihm nicht nachträglich Recht gegeben? Kann sein, daß vielen, die sich wenigstens für eine Übergangsphase eine starke und basisverbundene „Bewegungspartei“ wie das Bürgerforum in der CSFR oder eben die Bürgerkomitees Polens gewünscht hätten, die Perspektive eines konventionellen Parteiensystems nicht schmeckt. Eine häßliche Aussicht vielleicht - aber eine realistische.

Das kann man von der neuesten Idee Walesas, mit den Bürgerkomitees auch die Gewerkschaft Solidarnosc selbst zu begraben, schwerlich sagen. Solidarnosc war Zeit ihrer Existenz Interessenvertretung der ArbeiterInnen und politisch-soziale Bewegung zugleich. Mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Herrschaft ist zwar der alles politisierende „antitotalitäre“ Impuls geschwunden. Auch hat die neue Solidarnosc mit ihren rund zwei Millionen Mitgliedern nie an die Tradition der Massenbewegung der Jahre 80/81 anknüpfen können. Schließlich steht die Gewerkschaft seit dem Machtantritt Mazowieckis vor dem Zwiespalt, einerseits die Interessen der ArbeiterInnen vertreten, aber andererseits eine Regierung stützen zu müssen, durch deren Maßnahmen die Lebensbedingungen sich zumindest temporär verschlechtern. Aus all dem aber zu schlußfolgern, die Zeit der Solidarnosc sei abgelaufen, verkennt, daß es immer noch Arbeiter sind und nicht präsumptive Angehörige einer neuen Mittelklasse, die hinter der Gewerkschaft stehen. Walesa scheint jetzt einer neuen Gewerkschaftsbewegung mit strikt ökonomischen Zielsetzungen und der überkommenen Branchenstruktur das Wort zu reden. War aber nicht die Überwindung jener Struktur und die Aufhebung der strikten Arbeitsteilung Politik-Ökonomie zwar aus der Not diktatorischer Verhältnisse geboren, gleichzeitig aber eine höchst praktische, zukunftsweisende Sache? Oder müssen die polnischen Arbeiter auch hier erst durch die alte Scheiße, ehe ein entwickelter Kapitalismus ihnen entwickelte Organisationsformen erlaubt?

Christian Semler

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