Der Ball an sich

■ Der französische Philosoph Michel Serres über das Subjekt der Subjekte

Ein Ball ist kein gewöhnliches Objekt, denn er ist, was er ist, nur, wenn ein Subjekt ihn in Händen hält. Irgendwo niedergelegt, ist er nichts, ist er albern, hat er keinen Sinn noch eine Funktion noch Wert. Man spielt nicht allein mit einem Ball. Wer es dennoch tut, ihn festhält oder, wie man sagt, monopolisiert, der ist ein schlechter Mitspieler und wird bald vom Spiel ausgeschlossen. Man wirft ihm vor, zu sehr auf die eigene Person bedacht zu sein. Das kollektive Spiel bedarf keiner Personen. Betrachten wir den, der ihn hält. Wenn er ihn um sich kreisen läßt, ist er linkisch oder ein schlechter Komiker. Der Ball ist nicht für den Körper da, genau das Gegenteil ist wahr: Der Körper ist das Objekt des Balls, das Subjekt kreist um die Sonne. Geschickten Umgang mit dem Ball erkennt man an diesem untrüglichen Zeichen: Der Spieler folgt ihm und bedient ihn, weit davon entfernt, ihn folgen zu lassen und sich seiner zu bedienen. Der Ball ist Subjekt des Körpers, Subjekt der Körper und fast Subjekt der Subjekte. Spielen heißt nichts anderes, als sich zum Attribut des Balls als der Substanz zu machen. Die Gesetze sind für ihn geschrieben, sind in bezug auf ihn definiert, und wir beugen uns diesen Gesetzen. Geschicklichkeit im Umgang mit dem Ball erfordert eine ptolemäische Revolution, zu der wenige Theoretiker fähig sind, da sie es gewohnt sind, Subjekte in einer kopernikanischen Welt zu sein, in der die Objekte Knechte sind.

Geradeso wie das Frettchen zirkuliert auch der Ball. Je besser die Mannschaft, desto schneller läuft er um. Manchmal sagt man, dieser Ball sei eine glühende Kohle, welche die Finger so sehr verbrennt, daß man sich ihrer schnellstens entledigen muß. Erfreuen wir uns im Vorübergehen an der Metapher, die Rudyard Kipling nicht verachtet hat: Die rote Blume hält die Tiger fern und der goldne Zweig ist nicht weit. Der Ball ist das Subjekt der Zirkulation, die Spieler sind nur Stationen und Ruhepunkte. Der Ball kann sich in einen Zeugen der Ruhestation verwandeln; Zeuge, das heißt auf griechisch Märtyrer.

In den meisten Spielen ist der Spieler, der den Ball hat, im Angriff; die ganze Verteidigung organisiert sich um ihn und seine Position herum. Der Ball ist im Zentrum, auf das sich alles bezieht, solange das Spiel läuft. Mit wenigen Ausnahmen - dem amerikanischen Football zum Beispiel - darf man nur dem gegenüber Verteidigung üben, der den Ball hält. Dieses Quasi-Objekt bezeichnet ihn. Jemand ist durch das Zeichen des Balles markiert. Harro, faß!

Der Angreifer, also der Spieler, der im Ballbesitz ist, wird als Opfer ausgewiesen. Er hält den Zeugen, und er ist der Märtyrer. An dieser Stelle und in diesem Augenblick geschieht und überstürzt sich alles Wesentliche in bezug auf ihn. Der Himmel fällt ihm auf den Kopf. Die Gesamtheit der Geschwindigkeiten, der Kräfte, der Winkel, der Stöße und der strategischen Vorstellungen konzentrieren sich hier und jetzt. Aber plötzlich ist das nicht mehr wahr; was sich entscheiden mußte, wird nicht ausgetragen; der Ball zerrinnt, der Knoten löst sich: durch Ortsveränderung. Die Geschichte und die Aufmerksamkeit teilen sich. Der Zeuge ist nicht mehr da, das Frettchen läuft, plötzlich mit einem Maulkorb versehen, es stöbert einem anderen Hasen im Netzwerk der Zuschauerränge nach, der Ball ist außer Reichweite, das Opfer findet nicht statt, es ist auf später verschoben, der Märtyrer ist nicht dieser, sondern ein anderer oder noch ein anderer, und warum nicht wieder ein anderer. Alle. Das Spiel ist diese Stellvertretung. Es ist der Graph der Substitutionen. Priester, Opfer, in Blau, Rot oder Grün gekleidet? Nein. Im strengen Sinne Vikare, Stellvertreter. Vikare wegen der Beweglichkeit der Stellvertretungen, wegen der Geschwindigkeit der Substitutionen. Opferpriester jetzt, und sehr schnell Opfer, aber schnell auch wieder neutralisiert, in schnellem Wechsel durch den rollenden Ball, auf dieser Spielfläche, die wie einst ein Tempel abgegrenzt ist. Der Geopferte hat alle Gelegenheit, durch List und Geschicklichkeit seinen Nachbarn vorzuschicken, an seine Stelle zu setzen, und der Nachbar hat diese Gelegenheit gleichfalls usw., solange man will. So macht der Ball uns alle zu möglichen Opfern, wir setzen uns dem aus, und wir entrinnen wieder, und je mehr der Ball läuft, desto rascher der Wechsel in der Stellvertretung und desto gespannter die Emotionen. Der hin- und herlaufende Ball webt wie das Frettchen das Kollektiv, indem er virtuell jedes Individuum für tot erklärt. Dieser Grund, weshalb das Opfer die Krise beruhigt, ist jenes unverlierbare Wissen, das wir in uns tragen, unter der Stelle dieich sagt, daß dieses Opfer geradesogut und zufällig ich sein kann. Der Ball ist dieses Quasi-Objekt, Quasi-Subjekt, durch das ich Subjekt bin, das heißt unterworfen, gefallen, heruntergezogen, niedergetreten, von oben nach unten geworfen, unterworfen, ausgestellt und dann plötzlich durch diese Stellvertretung ersetzt. Die Liste ist die der Bedeutungen von subjicere, subjectus. Die Philosophie findet sich nicht immer an den gewöhnlich erwarteten Orten. Beim Ballspiel lerne ich mehr über das Subjekt als in der cartesischen Kammer, in der doch gleichwohl einiges Todbringende umging.

Während Nausikaa den Ball auf dem Strand ihren Gefährtinnen zuwirft, taucht Odysseus, von der Woge und der Brandung ausgespien, dem Sturm entrissen, nackt darunter hervor, als Subjekt. Ein Kind der Welle, ein Kind des Balls, der hin und herwandert.

Dieses Quasi-Objekt, das Subjekte markiert, ganz wie man sagt, man markiere ein Lamm für den Altar oder die Schlachterei, ist ein erstaunlicher Bildner von Intersubjektivtität. Durch dieses Quasi-Objekt wissen wir, wie und wann wir Subjekte sind, wann und wie wir es nicht mehr sind. Wir, was heißt das? Wir sind nichts anderes als dieser fließende Wechsel des Ich. Das Ich ist eine Spielmarke im Spiel, die man umtauscht. Und dieses Wandern, dieses Netz von Übergängen, diese Stellvertretungen des Subjekts weben das Kollektiv. Jetzt bin ich Ich, bin ich Subjekt, das heißt dazu verurteilt, aus meiner Höhe hinab auf den Boden geschleudert zu werden, verurteilt zu fallen, unter die feste Masse der anderen zu geraten; dann kommst du an die Reihe, du trittst an die Stelle des Ich, und später ist er es, der es an dich weitergibt, wenn seine Arbeit getan, seine Gefahr bestanden, sein Teil am Kollektiv geschaffen ist. Das Wir entsteht aus dem wechselnden Aufblitzen und Verdunkeln des Ich. Das Wir entsteht aus der Weitergabe des Ich, aus dem Austausch des Ich. Und durch die Ersetzung, und durch die Stellvertretung des Ich.

Diese Vorstellung erscheint uns sogleich vertraut. Jeder trägt seinen Stein bei und die Mauer wächst empor. Jeder trägt sein Ich bei und das Wir entsteht. Aber wie schwachsinnig ist solch ein Aneinanderfügen von Bausteinen, es ähnelt eher ministeriellem Gerede. Nein. Der Vorgang geschieht ganz so, als wären ich und wir in einer gegebenen Gruppe nicht voneinander lösbar. Er hat den Ball und wir haben ihn nicht mehr. Was wir uns vorstellen können müssen, wenn wir das Wir berechnen wollen, ist gerade die Weitergabe. Und diese Weitergabe bedeutet die Aufgabe des Ich. Kann man sein eigenes Ich geben? Es gibt Objekte, mit denen sich das bewerkstelligen läßt, Quasi-Objekte, Quasi -Subjekte, von denen man nicht weiß, ob sie Wesen oder Relationen, ob sie Bruchstücke von Wesen oder Zipfel von Relationen sind. Durch sie vermag sich das Individuationsprinzip zu übertragen oder haften zu bleiben. Es liegt eine Sache und eine Geste darin, die eine Aufgabe der Souveränität ähnelt. Das Wir ist kein aufsummiertes Ich, sondern etwas Neues, das durch Delegation des Ich, durch Konzessionen, Verzicht, Resignation des Ich entsteht. Das Wir ist weniger ein Ich-Ensemble als das Ensemble der Ensembles dieser Übertragungen. Es erscheint unverhüllt und roh in der Trunkenheit und in der Ekstase, dieser völligen Aufhebungen des Individuationsprinzips. Solche Ekstase läßt sich leicht durch das Quasi-Objekt herstellen, dem der Körper sich zum Diener oder Objekt gemacht hat. Man erinnert sich, wie er um ihn kreist, wie der Körper dem Ball folgt und ihm die Herrschaft überläßt. Man erinnert sich der ptolemäischen Revolution. Sie zeigt, daß wir zur Ekstase fähig sind, daß wir fähig sind, uns vom Gleichgewicht zu entfernen, daß wir uns außerhalb des Zentrums stellen können. Das Quasi-Objekt bezieht seine Macht aus dieser Dezentrierung. Und von daher hat, wer es besitzt, das Zentrum inne und beherrscht die Ekstase. Die Geschwindigkeit, mit der es weitergereicht wird, beschleunigt es und verleiht ihm Existenz. Partizipation, Teilhabe, meint eben dies und hat nichts mit Teilung zu tun, zumindest nicht im Sinne von Aufteilen. Partizipation ist die Wanderung des Ich durch Weitergabe. Es ist in präzisem Sinne die Aufgabe meines Individuums oder meines Wesens in ein Quasi-Objekt, das nur für die Zirkulation da ist. Es ist im strengen Sinne die Transsubstantiation des Wesens in eine Relation. Das Wesen wird durch die Relation aufgehoben. Kollektive Ekstase ist die Aufgabe des Ich im Gewebe der Beziehungen. Dieser Moment ist ein Augenblick höchster Gefahr. Jeder steht am Rande seiner Nichtexistenz. Aber das Ich als solches wird nicht eigentlich aufgehoben. Es zirkuliert beständig im und durch das Quasi-Objekt. Man kann diese Sache vergessen. Die liegt am Boden, und wer sie aufhebt und in seinem Besitz behält, wird zum einzigen Subjekt, zum Herrn, Despoten und Gott.

Und nochmals zum Krieg, zum Kampf, zu Streit und Auseinandersetzung. Der Mord ist ein Prinzip. Das verbrechen ist ein Prinzip. Der Krieg aller gegen alle findet niemals statt, hat nicht stattgefunden, wird niemals stattfinden. Der Kampf einer gegen einen, der Zweikampf, der Kampf drei gegen drei, Horatier gegen Curiater, sind nur Oberfläche, Spektakel, Tragödie, Komödie, Theater. Alle gegen einen ist das ewige Gesetz. Drei Curiatier gegen einen Horatier, wenn der Schein wie eine Larve zerrissen ist und es gilt, der Realität ins Auge zu sehen. Der Ausgang ist stets gewiß und der Krieg asymmetrisch. Die Parasiten treten in Massen auf und gehen keinerlei Risiken ein. Gewiß kommt es vor, daß die Lage sich wie durch ein Wunder verkehrt, daß der eine Horatier siegreich bleibt. Dann erzählt man davon und macht Geschichte daraus, und das führt dazu, daß man noch fester an die Phänomenologie des Krieges glaubt. Der eine Horatier war stärker als jeder der drei anderen, die zu Tode getroffen wurden. Das Gesetz ist unabänderlich.

Hier ist der Vorgang noch sublimer. Das Spiel ist so tiefgründig, daß man endlos darauf zurückkommen muß, der Kampf aller gegen einen wird durch den Flug des Balls aufgeschoben. Stellvertretung und Substitution umgehen beharrlich den unumgänglichen Ausgang. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf den schönen Schaukampf, in dem eine glorreiche Ungewißheit herrscht, und die Moral ist gerettet; man plaudert von Edelmut, und jedermann stürzt sich auf das Spektakel und wettet, wer verliert und wer gewinnt. Ja, man spricht gar von Zufall, da man ja spielt, während es in Wirklichkeit nur eine Kette von Notwendigkeiten gibt. Der heutige Verfall des Sports zu im voraus arrangierten Konfrontationen zeigt, sofern das noch nötig ist, worin die Hauptanziehungskraft liegt und worum es sich in Wirklichkeit handelt. Alles läuft stets auf den gefahrlosen Krieg hinaus, auf Verbrechen und Raub, auf Diebstahl an den Menschen und an den Dingen. Der Brauch leitet sich stets vom Mißbrauch her, er kehrt von selbst dorthin zurück, wenn die Ableitung, wenn die Herleitung sich verwischt und nicht mehr zu einem endlosen Wechsel der Rivalen führt.

Alle Theorie der Anleitung besteht darin, die Aufmerksamkeit auf die Rivalität zu lenken, schon das Wort derivation, Ableitung, verrät das.

Das Frettchen und der Ball sind Spielmarken, die man sich zuschiebt, und wahrscheinlich sind es Joker. Der Bau des Kollektivs erfolgt mit Jokern, eine großartige Bastelei. Mit ganz Beliebigem stellt man Beliebiges her. Diese Logik ist geradezu verrückt in ihrer Unbestimmtheit, sie läßt sich noch am schwersten festhalten.

Betrachten wir einen anderen Joker, der so unbestimmt ist, daß er, wie man weiß, ein allgemeines Äquivalent darstellt. Er zirkuliert wie ein Ball: das Geld, das Quasi-Objekt. Es zeichnet das Subjekt, und es kennzeichnet es wirkungsvoll: In unseren Gesellschaften werden die cartesianischen Meditationen bald anders gefaß: Ich bin reich, also bin ich. Das Geld ist voll und ganz mein Wesen. Der wahre Zweifel ist die Armut. Hyperbolisch gesprochen ist der wahre Zweifel das Elend. Descartes hat gemogelt, er hätte als neuer Franz von Assisi hinausgehen und sich seiner Güter entledigen müssen. Descartes hat gemogelt, er hat seine Dukaten nicht in den Rinnstein geworfen. Er hat die Welt niemals verloren, denn er behielt sein Geld. Der wirkliche, radikale Cartesianer ist der Zyniker. Descartes hat sich nie der Gefahr ausgesetzt, sein Ich zu verlieren, denn er hat niemals sein Geld riskiert. Er hat niemals mit dem bösen Genius um sein Hemd und sein Vermögen gespielt. Er hat sich nie ins Faß gelegt, in Schmutz und Regen, um den König, der vorübergeht, zu bitten, ihm aus der Sonne zu gehen. Mir kam dieser Zweifel, der nicht bis zum Nullpunkt des Besitzes geht, stets zweifelhaft vor. Ein schmutziger Reicher ist reich. Ein schmutziger Armer ist schmutzig. Ein reiches Ich ist ein Reicher, ein armes Ich ist ein Ich. Dann sähe man, wer dieser Herr ist.

Der Bau des Kollektivs erfolgte mit irgend jemanden und vermittels einer beliebigen Sache. Das Frettchen ist nichts, ein Ring, ein Reif, ein ganz beliebiger Gegenstand; der Ball ist eine Haut oder eine Luftblase. Ich reiche sie weiter oder werfe sie irgend jemandem zu, der gerade da ist, und dieser empfängt nichts oder beinahe nichts, jedenfalls hat es keine sonderliche Bedeutung.

Die Frage bleibt stets: Welche Dinge sind zwischen wem? Ganz gleich, wer das ist, du, ich, jener, der andere. Und zwischen ihnen, diesen Quasi-Objekten und womöglich Jokern. Die Stationen sind Exemplare von man, die Zirkulation erfolgt über Exemplare von es, und wir haben lediglich eine bestimmte Logik beschrieben.

Und ebenso ist das Geld nichts Großartiges, weil es alles ist; man tauscht es mit dem ersten besten, und der eine stiehlt es allen, der andere vergräbt es für niemanden.

Die Quasi-Objekte sind blank und diese Subjekte transparent. Aber das Interesse wächst stets mit der Dunkelheit und Undurchsichtigkeit.

Aus: Michel Serres: „Der Parasit“. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt/Main 1981, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Stw677, 391S., 24DM