Waffen-Walzer in Karlshorst

■ Erster Tag der Offenen Tür bei sowjetischer Motorisierter Schützenbrigade in Ost-Berlin / Verbrüderung mit West-Alliierten

Karlshorst. „Once again, once again“, rufen die Fotografen. Immer wieder müssen sich sowjetische und amerikanische Soldaten freundschaftlich die Hände reichen. Die Szene soll wohl an den Schulterschluß der beiden Armeen 1945 in Torgau erinnern. Vom kalten Krieg ist beim ersten „Tag der offenen Tür“ der sowjetischen Motorisierten Schützenbrigade in Karlshorst nichts mehr zu bemerken. Zwar wirken die Umarmungen der eingeladenen britschen, französischen und amerikansichen Mannschaften und Offiziere mit den Russen zunächst noch schüchtern, dann gibt es nur noch Lachen und das Klicken von Pocket-Kameras.

Von alter Klasse war die Exerziereinlage, die die einzige in Ost-Berlin stationierte Sowjet-Einheit präsentierte. So trat nach einigen Kommandos eine Gruppe von 48 weißbehandschuhten Soldaten aus der angetretenen Einheit hervor und vollführte zu den Klängen des „Walzers im Frontwald“ abgezirkelte Tanzschritte. Karabiner mit Bajonetten wurden dabei auf den Platz gelegt, wieder aufgehoben und in Kampfpositur nach vorne gehalten. Eine Art martialischer Square-Dance also. Mit Musik ging es weiter: die Soldaten gaben - im festen Marschtritt auf der Stelle altbekannte Rote-Armee-Hits wie „Tag des Sieges“ oder „Lied über die Sowjetarmee“ zum Besten. Der dirigierende Major sang laut vor und ermunterte die Mannen mit „rebjata, rebjata“ - Kinder, Kinder - zu kräftigem Gesang. Nach einer Salve aus erhobenen Gewehrläufen erklärte der Bekleidungschef die vielfarbigen Ausgeh-, Felddienst- und Sturmkampf-Uniformen.

Die Türen der Kasernen standen allen Besuchern offen. Die rund 2000 Mann starke Brigade logiert in 80er Schlafsälen, in denen um 22 Uhr Zapfenstreich ist. Grünpflanzen, Schachspiele und Fitnesecken mit Hanteln und Gewichten (Teile alter Panzerketten) statten diese aus. Das militärische Großgerät ist in Hangars untergebracht: Schützenpanzer sind darunter oder über 100 T-64 Panzer. Die neusten Modelle sind es nicht - die T-Serie ist inzwischen bei den 80er-Nummern angelangt.

Die Soldaten, die hier alles auf Hochglanz poliert haben, arbeiten auch vor den alliierten Kameraden und den Presseleuten weiter: Sie stemmen auf dem Sportplatz Kugelgewichte und veranstalten Schaukämpfe.

Disziplinprobleme wie in anderen Einheiten gebe es nicht, sagt Oberstleutnant Wassili Nissulo, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit beim Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf. Es sei auch eine Eliteeinheit, deren Angehörige „ausgewählt“ seien. Ausgang gibt es einmal die Woche am Sonntag, aber nur in Offiziersbegleitung. Für die Zwei-Jahres-Wehrpflichtigen steht Alkoholkonsum unter Strafe, auch außerhalb der Kaserne. Cafebesuche in Kreuzberg, die einige schon durchgeführt haben, müssen sich also auf Wasser und Tee beschränken. Komplizierter ist das Thema Desertionen. „Ab drei Tagen gibt es eine Untersuchung der Ursachen“, sagt Nissulo trocken. Die Todesstrafe gebe es noch „theoretisch“, meint ein Kollege von Nissulo, würde aber nicht mehr praktiziert.

Die Soldaten schwitzen immer mehr unter der durchbrechenden Sonne am Reck und Barren. Derweil fragen die Journalisten immer wieder nach dem geordneten Rückzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte. Die gut 300.000 Mann würden in einem Zeitraum von drei bis vier Jahren zurückkehren, lautet die stereotype Antwort von Nissulo. In der Heimat gebe es wie bekannt - Unterbringungsprobleme.“

Mittags steigen die reich dekorierten Alliierten-Chefs, darunter der amerikansiche General Sidney Shachnnow, wieder in ihre Karossen. Immer noch ertönt Marschmusik aus dem Hintergrund. Zurück bleiben unter anderem nachdenkliche NVA -Offiziere. Man nehme viele repräsentative Aufgaben zusammen wahr, wie zum Bespiel am Treptower Ehrenmal, sagt Oberst Horst Reiners, zweiter Mann in der Ostberliner Stadtkommandantur. Es gebe die gleiche Ausbildung, auch die Lazarette kooperierten, sagt Reiners. Gibt es auch einen Unterschied? „Ja, bei uns wird nicht so viel gesungen.“

Christian Böhmer