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Licht mal Zeit mal Bewegung

■ Fotografien von Xanti Schawinsky im Otto-Nagel-Haus

Schon auf der ersten Fotografie aus der Bauhauszeit von 1924, Treppenwitz betitelt, ist zu sehen, was so, ohne die Technik, nicht zu sehen war. Xanti Schawinsky nahm mit langer Belichtungszeit eine Ecke vor einer steilen Treppe auf. Vorne sitzt, der Körper noch verläßlich manifest, ein Mann auf einem Stuhl. Ein zweiter räkelt sich hinter ihm, nur noch ein transparenter Schatten, durch den die Kanten der Wand hindurchscheinen. Ebenso ergeht es dem dritten Mann, der auf der Treppe steht: Die Stufen durchschneiden seinen Körper, das Geländer durchbohrt seinen Hals. So hat Schawinsky zugleich die Abwesenheit und die Anwesenheit seiner Freunde ins Bild gesetzt. In dem geisterhaften Spiel nutzt er die Fähigkeit der Fotografie anders als der Netzhaut des Menschen, mehrere Augenblicke zu speichern und übereinanderzublenden.

„Beides, die ideale Identität der Gestalt und ihre reale Veränderung als Funktion der Zeit, in einem ausdrücken zu können ist die sich durchhaltende Intention im Schaffen Schawinskys gewesen ...“, schrieb der Philosoph Hans Heinz Holz in seinem Buch Bewegung im Raum - Bewegung des Raumes über Xanti Schawinsky. Ob Schawinsky mit bewegten Bühnenbildern experimentiert oder als Bauhausmaler die Versatzstücke klassischer und moderner Architekturen im Himmel schweben und auf Schiffen schwimmen läßt, ob er als Werbegraphiker Anfang der dreißiger Jahre die Tastatur der Olivetti-Schreibmaschine wie ein Raumschiff durch den Sternenhimmel schickt oder als früher „Popartist“ 1960 über seine Leinwände tanzt und mit dem Auto rast, immer wird etwas in Bewegung versetzt, um Raum und Zeit erfahren zu lassen. Die konstituierende Funktion von Bewegung in der Wahrnehmung des Raumes einzufangen, dazu dienen auch die meisten seiner fotografischen Studien, die jetzt im Otto -Nagel-Haus am Märkischen Ufer zu sehen sind.

Schawinsky, 1904 in Basel geboren, notierte schon während seines Architekturstudiums und bevor er 1924 ans Bauhaus kam: „Das echte Werkzeug der Architektur ist die Raum -Vorstellung in Bewegung.“ Er studierte bei Kandinsky, Schlemmer, Klee, Moholy-Nagy und Gropius. Als echter Bauhaus -Wunderknabe fand er kein Genre zu schwer, um darin seine visuellen Forschungen weiterzutreiben. Schon bald war er fotogenes Mitglied der Bauhauskapelle, fehlte selten beim Tanz auf dem Dach und beim Sport am Strand, arbeitete als Assistent in der Bühnenwerkstatt, entwarf „Spectodramen“ und Gebrauchsgraphik, beschäftigte sich mit freier Malerei und Ausstellungsgestaltung. „Seine Person war die geballte Aktivität“, erinnerte sich Max Bill. Daß der Energiebolzen am Bauhaus auch noch mit der experimentellen Fotografie begann, stempelt ihn vollends zu einem der Multitalente jener legendären Formenschmiede.

Am Black Mountain College in den USA, wohin er 1936 emigrierte, entstanden seine gerasterten Fotogramme. Mit dem Raster, das in der Typographie als technisches Hilfsmittel dient, erzeugte er synthetische Raumvisionen von unterschiedlicher Struktur und Dichte. Im leeren Raum ereigneten sich Verschiebungen, Wellen, Konzentrationen, Ausdünnungen, Schwingungen und Vibrationen von Energiefeldern.

In New York entstand 1943 eine Serie von Fotocollagen, in denen er sich über ein Porträt von Walter Gropius hermachte. Er zerlegte es in Raster über glühenden Farben, blendete geometrische und stereometrische Modelle drüber, entfachte über dem Gesicht eine Explosion organischer Teilchen. Aber trotz aller Tricks der Verfremdung, mit denen er andere Bauhauslehrer wie einen Musterbogen zitiert, rührt er das Gesicht des Meisters eigentlich nicht an. Er führt seine Formsprachen nur vor, ohne ihnen einen Inhalt zu geben.

Auch in einer Serie von Photopaintings spielt er symbolische, abstrakte, realistische und strukturelle Motive durch: Doch diese verschiedenen historischen Möglichkeiten der Visualisierung dienen ihm nur als Anlaß seiner Experimente. Er läßt die Motive in schwarzen und weißen Balken, Knoten und Ecken auseinanderlaufen. Die weißen Flächen erinnern an schmelzenden Schnee, die schwarzen an sich ausbreitende Brandlöcher. Als würde der Bildgegenstand unter der Einwirkung von Hitze und Kälte in seiner Substanz angegriffen und verändert, simulieren die Photopaintings einen alchemistischen Prozeß.

Schawinsky Malerei näherte sich in den fünfziger Jahren dem Informel. In der Fotografie erzeugte er durch den Vorgang des Aufnehmens, die Bewegung der Kamera und die Länge der Belichtung aus Lichtquellen Linienbündel und kurvenreiche Strahlen, die wie eine Reise durch die Galaxien und Lichtjahre wirken. Ähnliche Strukturen finden sich zehn Jahre später wieder, wenn er im offenen roten Sportwagen über die großen Leinwände rast und mit den Reifenspuren malt.

Schawinskys fotografische Studien über Bewegung, Geschwindigkeit und Licht kündigen die kinetische Kunst ebenso an wie die Möglichkeit der simulierten Wirklichkeiten in der Computergraphik. Trotzdem bleibt ihre isolierte Ausstellung unbefriedigend. Es sind Erkundungen des Machbaren, orientiert an der Entwicklung der Technik, kaum ausformulierte Themen. Erst in Verbindung mit seinen anderen Arbeiten erweisen sie ihre Fruchtbarkeit im Labor des Künstlers; allein ausgestellt wirken sie wie die Erinnerungsstücke eines Technikfreaks.

In West-Berlin zeigte eine Schawinsky-Retrospektive des Bauhaus-Archivs 1986 einige der Fotografien im Zusammenhang seines Werkes. 1987 hatte das Zentrum für Kunstausstellungen der DDR eine kleinere Schawinsky-Retrospektive aus der Schweiz übernommen und dabei die Übernahme der ergänzenden Fotoausstellung aus dem Nachlaß Schawinskys mit der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia verabredet. Das Aufbrechen der isolierten Lage Ost-Berlins hat dieses kunstgeschichtliche Nachholereignis etwas um seinen Effekt gebracht.

Katrin Bettina Müller

Xanti Schawinsky, eine Fotografieausstellung aus dem Nachlaß im Otto-Nagel-Haus, Märkisches Ufer 16/18, Berlin 1020 bis 20. September.

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