Der hohe Anspruch

■ Zur denkbaren Rolle der Bürgerrechtsbewegung im gesamtdeutschen Parlament

KOMMENTARE

Der Standpunkt vieler Grüner und Linker, von dem aus die deutsche Vereinigung als eine verlorene Schlacht betrachtet wird, ist auf jeden Fall aus einem Grund falsch. Denn es können noch viele Schlachten verloren werden, in der nächsten Zeit und in den nächsten Jahren. Oder positiv ausgedrückt: die Situation ist offen und es ist durch nichts zu rechtfertigen, sich als Opfer aus der politischen Verantwortung zu stehlen. Eine Verantwortung müssen die Grünen-West vor allem sehen: es hängt tatsächlich viel von ihnen ab, ob das Wahlbündnis mit der Bürgerrechtsbewegung der DDR zu einer lebendigen politischen Kraft werden wird. Als die verdienstvollen Helden des revolutionären Herbstes sind sie in der Volkskammer lang genug eingeschreint und von Abstimmungsniederlage zu Abstimmungsniederlage geprügelt worden. Im gesamtdeutschen Parlament werden die Bürgerrechtsbewegungen ein Prüfstein für die Demokratie im vereinten Deutschland sein. Und sie können eine Schlüsselfunktion spielen. Es kommt darauf an, wie sie angenommen werden. Rituelle Huldigung und pädagogische Behutsamkeit von Politprofis steht hier nicht zur Debatte. Die Bürgerrechtler verlangen vielmehr eines: die Fähigkeit, zuzuhören. Sie passen nicht - weder von den Charakteren her, noch ihrem Anspruch nach - ins Schema der geistigen und sprachlichen Fraktionszwänge. Die ideologische Duftmarken -Rhetorik, die den Bundestag allenthalben beherrscht (und die die Volkskammer so schnell gelernt hat) hat genau diese Fähigkeit unterdrückt.

Den Anspruch an die Politiker, die Fähigkeit des Zuhörens zu praktizieren, verkörpern die DDR-Bürgerrechtler nicht zuletzt deswegen, weil sie etwas zu sagen haben. Ihre Unabhängigkeit, ihre Erfahrung in direkter Demokratie und Sensibilität gegenüber der ideologischen Verschleierung von Macht befähigt sie am ehesten, unverstellt über die Lage der Menschen in der ehemaligen DDR zu sprechen. Sie am ehesten sind in der Lage, die existentielle Bedrängnis von Leuten zur Sprache zu bringen, die von einem Tag auf den anderen aus der sozialistischen Zukunftssicherheit in die kapitalistische Zeit der Selbstverwertung geworfen worden sind. Ihre Stimme ist umso notwendiger, weil es mit der PDS eine Partei geben wird, die mit beträchtlicher Routine auf das Opferbewußtsein und auf die bequeme Opferrolle der ehemaligen DDR-Bürger setzt. Die Stimme der Bürgerrechtsbewegung im künftigen deutschen Parlament zu hören wird gleichbedeutend sein, die Lage der ehemaligen DDRler auch politisch zu akzeptieren.

Die Grünen-West haben da eine besondere Verantwortung - an die sie allerdings keine der anderen Parteien je erinnern wird. Sie müssen bereit sein, den Bürgerrechtlern nicht nur eine formelle Autonomie im Parlament zuzugestehen, sie müssen diese Autonomie auch als Chance begreifen, quer zu den Parteilagern politische Bündnisse zu stiften. Die politischen Herausforderungen werden so massiv sein, das eine derartige transversale Politik die realitätstüchtigste sein kann. Dieser Anspruch heißt allerdings, daß sie auf viele ihrer liebgewordenen Techniken politischer Impotenz verzichten müßten. Sie müßten damit brechen, mit der Basisbürokratie und mit dem „Strömungsgerangel“ politische Ideen kleinzuhacken. Bei der Ost-West-Kandidatenkür zeigt sich leider, daß die Apparate hüben und drüben schneller zu kooperieren gelernt haben, als es den freien Geistern gelungen ist, miteinander ins Gespräch zu kommen. Aber eine künftige Fraktion der Grünen und der Bürgerrechtsbewegung, die wie bisher eifersüchtig auf strömungsgerechtes Aushandeln politischer Auftritte aus ist, würde die große Chance einer Demokratisierung der deutschen Vereinigung verspielen.

Klaus Hartung