: Behindertengemeinschaft auf Öko-Trip
■ Zukunftssorgen auf dem Landgut Gronefelde / Hof und Heim von Behinderten auf dem Weg zur „Bio„-Wende / Den Heimbewohnern geht es jetzt nach Westgesetzen ans Sparbuch
Frankfurt/Oder (taz) - „Kommen Sie mich abholen?“ Petra A. zerrt an ihrer bunten Küchenschürze und sieht den Volkspolizisten fragend an. Der aber hat überhaupt gar keinen Platz für sie. „Schade.“ Keinen Platz in einer grauen Gefängniszelle. Petra erzählt ihr kleines Späßchen, das sie sich mit dem Vopo erlaubt hat, wieder und wieder. Mittagspause auf dem Landgut Gronefelde. Frauen und Männer sitzen verschwitzt und staubig in ihren Arbeitskitteln und -hosen unter der schattigen Eiche. Sie lachen. Elke nagt an einem Pfirsich. Und immer wieder äugen sie neugierig nach den beiden Grün-Weißen. Heute morgen hat Kai zwei Handgranaten auf dem Kartoffelacker gefunden. Nach einem Anruf fuhr Minuten später der Trabi der Ortspolizei vor. Eine Abwechslung, fast schon eine kleine Sensation ist das auf dem Gut, das so beschaulich im Grünen nahe Frankfurt liegt.
Grün ist jedoch nicht nur die Umgebung. Der ehemalige hofeigene Schweinestall nennt sich heute „Grüne Scheune“ und beherbergt einen kleinen Urwald. Hans Oberländer, der Gutsleiter, nennt es „fast ein kleines Wunder“, daß die Palmen hier wachsen. Sein ganzer Stolz ist der überdimensionale Wintergarten, der direkt aus einem auf ökologischen Wohnkomfort ausgerichteten West -Hochglanzmagazin entsprungen zu sein scheint. Tatsächlich ist das Glasgewächshaus Produkt der Zusammenarbeit mit einem Team aus Architekten, Ärzten, Biologen und Psychologen aus dem schwäbischen Tübingen noch zu Vor-Wende-Zeiten.
Das aber ist nicht das einzig Ungewöhnliche hier. Auf dem Landgut orientieren sich die ArbeiterInnen nicht nur an den Früchten der Arbeit, die Arbeit selbst steht im Mittelpunkt, ist Therapie: „Heute leben in Gronefelde 42 Frauen und Männer mit Behinderungen, die auf den zum Gut gehörenden 56 Hektar Ackerland arbeitstherapeutisch eingesetzt werden“, so ein Informationsblatt. Das mag die Erklärung dafür sein, daß von den 29 BetreuerInnen niemand eine psychologische oder therapeutische Ausbildung hat. Hier sehen - neben Krankenschwestern und Pflegern - Traktoristen, Viehpfleger, ein Gärtner und eine Köchin nach dem rechten. Die einzige Spezialistin, eine Neurologin aus Frankfurt, kommt alle sechs Wochen auf den Hof.
Gronefelde ist eines von zehn Heimen in der DDR, die mit einer Landwirtschaft kombiniert sind. Oberländer nennt dies „überhaupt die ideale Lebensform für Behinderte. Die Arbeit in der Natur und der Umgang mit Tieren fördert die Persönlichkeit“. Vorwürfe von Kritikern an dieser Form von Behindertenarbeit weist der diplomierte Landwirt, seit 20 Jahren auf Gronefelde Leiter, zurück. „Behinderte lassen sich gar nicht ausnützen. Sie flippen aus, wenn es ihnen zuviel wird.“ Die Leistungsgrenze als Maßstab? Wenn die Frauen nach über sieben Stunden Arbeit abends noch Federball spielen können, beruhigt sich Oberländers Gewissen, das ihn doch manchmal geplagt habe, wenn auch er nach einem Tag Rübenhacken erschöpft war.
„Eigentlich auch arme Schweine, die wissen genausowenig, wie es weitergeht.“ Sinnierend blickt der von der Kirche eingestellte Leiter den davonfahrenden Polizisten nach. Aber wer weiß das schon in den Zeiten des Umbruchs? Bisher ging es dem Landgut finaziell recht gut. Der nach DDR-Methode erwirtschaftete Gewinn - die Ernteerträge wurden zu erhöhten Staatspreisen verkauft, dafür wurden subventionierte Lebensmittel im Laden gekauft - flossen ins Heim. Außerdem zahlte die „Innere Mission“, das evangelische Pendant zur „Caritas“, einen Tagespflegesatz von 28 Mark pro Person. Und nun läuft der Countdown für dieses Modell. Ab dem 3. Oktober gelten bundesdeutsche Bestimmungen über die Finanzierung der Behindertenpflege. Das heißt, daß es erst an das eigene Vermögen, beziehungsweise das der Verwandten ersten Grades geht, und dann der Staat zahlt. Er muß also Maria K. jetzt beibringen, daß ihr kleines Erbe kassiert wird. Oberländer seufzt: keine leichte Aufgabe. Ist doch das Sparbuch für die rotwangige, robuste Mitfünfzigerin ein Rückhalt und ihr ganzer Stolz. Und wie reagieren betagte Eltern, wenn sie nun für ihre „Kinder“ im Heim belangt werden? Ein „völlig neues Lebensgefühl - aber kein gutes“.
Auch in der Landwirtschaft ist Umdenken gefragt. Noch erscheint es dem Heimleiter im Grunde „total blöde“, Geld für eine Extensivierung, ja gar Flächenstillegung zu kassieren. Trotzdem bleibt einzig der Weg des bioorganischen Anbaus, um auf dem gesamtdeutschen Agrarmarkt überleben zu können. Dafür gibt er die Putenmassenhaltung auf, mit der er sich finanziell als wahrer „Hans im Glück“ erwiesen hat. Ein kleines Zubrot soll der geplante Bioladen einbringen, in dem für vier Jahre Bioland-Produkte aus dem Westen verkauft werden. Erst nach der Umstellphase auf Gronefelde geht die eigene Ernte über den Tresen.
Das Umdenken Richtung „bio“ hat bei ihm jedoch nicht erst mit der Wende eingesetzt. Schon vorher hat er sich für humanes Wohnen eingesetzt und aufgebaut, was zunächst nach einem Hirngespinst eines Verrückten aussah: Die „Grüne Scheune“. Passive Sonnenenergienutzung? Wintergarten? Keramikwerkstatt? Wohnappartements für Paare aus dem Heim? Was sich das Tübinger Team ausgedacht hat, schien für DDR -Verhältnisse weder realisierbar noch angemessen. Materialmangel. Dennoch ging es. Irgendwie. Mit Spenden, Standbein und Geld aus der Putenzucht.
Grönemeier grölt „Bochum“ aus dem Radio in der Plastiktüte. 24 Grad im Schatten, morgens um elf. Ilse F. rupft Unkraut aus dem Sonnenblumenfeld und meint, daß sie sich nicht wie in einer Familie fühle. Zu viele Streitereien. Und außerdem führen sich die Bewohner aus der Scheune jetzt wie Könige auf, meint die Epileptikerin, die noch im alten Wohnheim lebt. Die kleinen Wohnungen mit eigenem Bad und Kochgelegenheit sind der pure Luxus, wenn man der Enge des Wohnheims entkrochen ist. Ilse F. hat es ja noch gut in ihrem Einzelzimmer, das mit den geliebten, abgenutzten Teddies und dem 70er-Jahre-Plaste-und-Elaste-Kitsch auf dem Bett und den Regalen hoffnungslos überladen wirkt. Das Bad teilt sie sich jedoch mit 17 anderen Leuten. Kein Platz für einen Rest an Intimsphäre.
Ganz anders sieht es dagegen in der 1986 fertiggestellten Scheune aus. Vier Appartements haben sogar eine große Wohnküche im Obergeschoß und sind für ein Leben zu zweit gedacht. Erst eines davon wird auch von einem Paar bewohnt. Als 1977 erstmals Männer auf den Hof kamen, stand auch das Thema „Beziehungen“ an. Heute müssen sich die zarten Bande ein dreiviertel Jahr bewähren, dann kommen die Vorschüler der Liebe in die Eheschule. Aufklärung, Körperhygiene und Familienplanung stehen auf dem Stundenplan. Die Familienplanung gestaltet sich bislang und auf weiteres jedoch eher als Familienvermeidungsplan. Man habe den Paaren die Spirale ans (verliebte) Herz gelegt. Mit der „Notlüge“ (Oberländer), sie werde auf Wunsch wieder entfernt. Davon ist heute jedoch keine Rede mehr. „Kinder wollen wir nicht.“ Aus Platzmangel. Die Paare haben es akzeptiert notgedrungen.
Petra Brändle
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen