: Erwartungsgemäß ist es still
■ Werneuchen bei Tag: Ein Versuch über die Provinz
Vom Alex nach Ahrensfelde. Ein paar Häuser, in wirren Winkeln aufgestellt, grüßen den S-Bahn-Fahrer zwischen Springpfuhl und Marzahn: Am Reißbrett hat Honecker Vorstadtwohnschachteln verrückt. Rechteckig, gerade und abstrakt ist unmenschlich. Schräg, quer und aus der Reihe ist fast organisch. Also human. Von Ahrensfelde nach Werneuchen.
Im Vorortzug zum S-Bahn-Tarif sitzt die Familienbande: Tante, dünn, Mama, dick mit schwarzen Haaren an den Waden, und zwei kleine bunte Cola-Jungs. „Votze, Votze“, ruft Mama manchmal, um die Kinder zu erheitern zwischen Büchsenbierschlucken. Die lachen auch freudig.
Werneuchen beginnt am „Märkischen Hof“. 3.500 leben hier in einer organischen Einheit. Eine neugierige Wirtin, die selten ein fremdes Gesicht beliefert, erkennt uns und redet: „Jeder zweite hier ist arbeitslos.“ Auch in der Gaststätte hätten sie Probleme: Früher wären mehr Gäste gekommen. Die ländlichen Arbeitsstätten - agrochemisches Zentrum, Karosseriebau, Obstanbau, Landesambulatorium - sind in Schwierigkeiten oder haben geschlossen. Man solle doch auch etwas von den guten Seiten der DDR übernehmen, sagt sie. Allerdings hätten die ja vor allem die Asozialen ausgenutzt wie zum Beispiel die Küchenhilfe, die drei Planstellenjahre mit drei Geburten und zwei Abtreibungen verurlaubt habe. „Es gibt eben solche und solche“, lautet das lähmende Fazit der alltäglichen dialektischen Anstrengung, das von einem versöhnlichen „andererseits“ eingeleitet wird.
„Im Himmel gibt's kein Bier, drum trinken wir es hier“, so kündigt der Thekensinnspruch den Auftritt des Wirts an. Wie in den meisten anderen Ostkneipen gibt es auch hier nur noch Westmarken zu trinken. Wo denn das gute Radeberger aus Eberswalde geblieben sei? Der Wirt erzählt vom ewigen Kampf um die Lieferung von Radeberger Bier, die meist zu knapp und verspätet kam, und von nach sechs Tagen trüb werdendem Bier ... Das wäre gemein gewesen, denn nach fünf Tagen hätte man's noch zurückbringen können. Auch kurz nach der Währungsunion sei noch schlechtes Bier angebracht worden. Dann kommt er auf die Schikanen des Dr. Max aus Pichelsdorf vom Hygieneamt zu sprechen. Der habe von einer Eisportion die Sahne abgekratzt, das Eis dann auf die Waage gelegt, um festzustellen, ob es das vorgeschriebene Gewicht habe. Und in der Neujahrsmorgendämmerung (!) habe er die Küche kontrollieren lassen. „Sie können sich ja denken, daß da noch vieles unordentlich war.“
Der Wirt freut sich über die potlatschartige Antwort eines von Dr. Max Überführten: Der hatte nämlich die 800 Mark Geldstrafe - weil die Küche am Neujahrsmorgen eben nicht so ganz den Hygiene- und Ordnungsvorschriften entsprochen habe und er darüber hinaus den braven Doktor „geschubst“ hatte verdoppelt, also 1.600 Mark bezahlt und somit für das nächste Mal gleich mit. (Nach dem Ethnologen Marcel Mauss liegt der Ursprung der Ökonomie nicht im Tauschhandel, sondern in dem bei den Indianern des amerikanischen Nordwestens beobachteten „Potlatsch“, einer Tauschform, die in einem beträchtlichen Geschenk von Reichtümern besteht, das ostentativ gemacht wird, um einen Rivalen zu demütigen.)
Die Steigerung durch Doppelung ist ein beliebtes und sicheres Verfahren. Auf der Speisekarte stehen zwei Eisbecher. Eisbecher „David“ mit fünf Kugeln, Eisbecher „Goliath“ mit 15 Kugeln. Der Goliath-Becher ist das erste Beispiel einer Reihe von Phänomenen, die wir - nach ihm Goliath-Prinzip nennen: Wenn etwas deutlich gemacht werden muß, bekräftigt werden soll, wird verdoppelt. In den Bekanntmachungsblättern des Rathauses kommt in den wichtigsten Sätzen dasselbe Wort zweimal vor. So heißt es an der Pinnwand im kühlen Dunkel des Rathausflurs, bezugnehmend auf den Verdreckungsgrad der Seen um Bernau, in einem sonderbaren Slalom zwischen Vorwegnahme, Nachweis und Zurückführung: „Das Ergebnis vorwegnehmend, kann festgestellt werden, daß noch keine nachweisbaren Verschmutzungen festgestellt wurden, die auf die Kerosinverunreinigung zurückzuführen sind.“ Oder jemand schreibt in seltsam verwirrender Schönheit: „Der ermittelte Wert für die Phenolbelastung liegt über dem Grenzwert aus der Verordnung zur Änderung der Trinkwasserverordnung, die allerdings noch nicht gültig ist in der BRD.“ Trotzdem, dennoch, gerade deswegen: „Das Baden in den Bernauer Gewässern ist ungefährlich und auch erlaubt. Lediglich im Haussee (...) ist das Baden nach Meinung des Gesundheitsamtes (bloßes „Meinen und Diesen“, wie Hegel sagen würde; d.A.) bedenklich.“
Das Goliath-Prinzip zeigt sich auch in der Headline des 'Deutschen Landblattes‘: Heißes Eisen sorgte für Zündstoff. Die Beispiele ließen sich beliebig fortführen.
Die Wirtin schickt uns in die Stadt. Die Stadt fängt bei der Post an. Hinter zwei Schaltern werden Postangelegenheiten abgewickelt und Zeitungen verkauft. Die Informationsfunktion vereint beide Tätigkeiten, und eine Art Informationsmonopol verhindert, daß an anderen Stellen Periodika verkauft werden könnten.
Etwas anderes ist mit den Büchern passiert. Der einzige Buchladen des Ortes hat jetzt ganz geschlossen - zuvor hatte er nur noch einen Tag in der Woche auf -, dafür konkurrieren zwei Videotheken mit Dumpingpreisen. Und in Spiel- und Schreibwaren-, Lebensmittel- und Industriewarenläden gibt es das gleiche Schnellregal mit bunten Büchern. Das Funktionsgesetz - Post - steht wider das Wertgesetz.
Häufig werden die Funktionen auch vertauscht: Die Schüler der Klassen 1a und 1b wurden im Kino eingeschult, und im ehemaligen Landambulatorium neben dem Bahnhof hat sich die SPD eingenistet, um die sozialen Positionen zu besetzen. Im ehemaligen Kulturhaus ist jetzt ein Supermarkt: „Für Werneuchen ist 'Meyer‘ ab 2.8. im Kulturhaus.“ Ab 14 Uhr bildet sich dort eine dreißig Meter lange Schlange. Aus Gewohnheit - weil es nur dort etwas Schönes gibt, wo viele warten? Oder aus Sehnsucht nach sozialer Wärme? - Mürrisch blicken die Gesichter drein. Um 15 Uhr ist die Mittagspause zu Ende. Leer und einsam warten die anderen Lebensmittelläden im Septemberwind. Manchmal hat nichts mehr einen Sinn: Neben der obligatorischen Männergruppe steht ein Mitteilungsbaum mit vielleicht dreißig rostigen Reißzwecken, an denen nichts dranhängt.
Die Topographie von Werneuchen ist seit altersher vorgegeben. Ein rechteckiger Marktplatz liegt im Zentrum. Einsam, nur manchmal mißtrauisch beachtet, stehen dort zwei Vietnamesen, die mit Billigelektronik, zollfreien Zigaretten und uns aus Berlin gekommen waren. Daneben wartet ein Obststand. Am Rathaus klebt noch ein Megaphon; es verweist auf alte Politmeetings. Leider ist Peppone nicht da, und auch Don Camillo ist verreist, wie uns seine Tochter, ein semmelblondes Mädchen, mitteilt. Sie ist auf dem Marksand aufgewachsen. „Die Landschaft prägt die Menschen“, erklärt de Maiziere in der Zeitung. Das neugotische Gotteshaus steht quer zum Straßennetz. Verlassene Trampelpfade auf einer Wiese müssen den Transfer von der Geraden zur Diagonalen leisten.
Ab und zu rennt ein Jogger in brauner Trainigshose vorbei. Die Scheiben der Turnhalle sind zerbrochen. Erwartungsgemäß ist es still in Werneuchen. In der üppig bestückten Zoohandlung wartet ein T-Shirt auf den Wirt: „Bier formte diesen wunderschönen Körper“, und im Umkreis lauert die Tollwut.
Ein Plakat fordert die Seenplattenbewohner zum vereinten „Abangeln“ auf, und wir machen uns langsam ab. Viele alte Männer und Frauen sitzen, auf Kissen gestützt, an den Fenstern, blicken auf bunte Hobbygärten und bestreiten uns das Glotzen. Die Berliner Belegschaft des „Schwarzen Adlers“, der zweiten Gaststätte, ruft uns noch einmal hinterher, daß am Samstag, den 8.9. „Nachtboutique“ sei - ab 22 Uhr tanze man bis in die Puppen. Da kämen auch viele Hauptstädter.
Detlef Kuhlbrodt/Philipp Weiss
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