Fünf blaue Briefe wegen 11 Mark 83

■ Irm Seufert, Koloratursopranistin, erlebte wegen ein paar Mark Mietrückstand eine Realsatire der Bürokratie / Sängerin verlangt „Gage“ für die Mitwirkung

Kreuzberg. Justitias Mühlen mahlen in einem Affenzahn besonders dann, wenn es um die ungeheuerliche Summe von elf Mark dreiundachtzig geht. Diese Erfahrung durfte jedenfalls Irm Seufert machen.

Die bayerische Koloratursopranistin, die sich „Fürstin des Grauens“ nennt und rauchende Zeitgenossen gnadenlos verfolgt, wohnt trotz - oder wegen - ihrer bayerischen Abstammung im tiefsten Kreuzberg. Vor gut einem halben Jahr, am 19. Februar, erhielt sie von ihrer Hausverwaltung die Mitteilung, die Miete ihrer kleinen Wohnung sei um 11,83 DM erhöht worden. Soweit nichts Besonderes. Also benachrichtigte sie ihre Bank, den Dauerauftrag entsprechend zu verändern, ihr aber keine Briefe mehr zu schicken, da der Briefkasten in ihrem Haus ungesichert sei. Soweit immer noch nichts Besonderes.

Doch am 11. Juli flattert ein blauer Brief ins Haus: Die Wohnungsgesellschaft will ihre Mieterin vor dem Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg verklagen. Der mit allerlei Auftritten und russisch-amerikanischen Gesängen bis zum hohen F beschäftigten Sängerin ist nämlich entgangen, daß ihre Bank die Mietveränderung verschlampt hat. Ein Seufzer der Irm Seufert. Sie schreibt an ihre Bank, daß die für drei Monate fehlenden 11 Mark 83 sofort überwiesen werden, sie schreibt an das Gericht, daß alles ein Irrtum und nunmehr wieder gerichtet sei ...

Doch es ist wie in der Schule: Versetzung abgelehnt. Am 18. Juli flattert der zweite blaue Brief ins Haus: Der Verhandlungstermin sei jetzt auf den 22. August festgesetzt. Am 31. Juli kommt der dritte blaue Brief: ein Beschluß der Amtsrichterin, die Verhandlung wegen Urlaubs des Klagevertreters zu verschieben. Am 14. August muß Irm Seufert zum vierten Mal aufs Postamt rennen, um den vierten dort niedergelegten blauen Brief abzuholen. Immerhin hat der Anwalt der Wohnungsgesellschaft jetzt wenigstens beantragt, den Rechtsstreit für „in der Hauptsache erledigt“ zu erklären. Ist nun alles vorbei? Aber nein. Am 24. August folgt der fünfte und vorläufig letzte blaue Brief, „im Namen des Volkes“ und mit einem „Versäumnisurteil“: Der Rechtsstreit sei jetzt wirklich in der Hauptsache erledigt, die Beklagte habe „die Kosten des Rechtsstreits zu tragen“.

Selbige denkt gar nicht daran. „Ich protestiere, ich widerrufe“, schrieb sie an das Amtsgericht, Aktenzeichen 4C293/90. Für ihre bisherige Mitwirkung verlange sie „eine Gage von 1.000 DM“.

„Ihre Produktion 'Realsatire im Namen des Volkes‘ 4C293/90“, das gestand sie dem Amtsgericht jedoch unumwunden zu, sei „ein auffallendes Glanzstück, ein herausragendes Paradestück. Ein Boulevardstück mit Tiefgang, wirft es doch gesellschaftspolitisch auch Fragen auf, zum Beispiel falsche bzw. gefärbte Medienberichterstattung von wg. 'überlastete Gerichte‘. Richtiger ist wohl, daß Gerichte hohe indirekte Arbeitslosigkeit haben und sich inoffiziell Theaterarbeit bemächtigen.“

usche