: Die deutsche Sprache ist mir Heimat heut‘ und immer
■ Die deutschsprachige Literatur in Israel
Der kleine Veranstaltungsraum liegt im Souterrain. Durch die Fensterschlitze nahe der Decke fällt nur wenig Licht. Die Lampen sind ausgeschaltet, zwei Klimaanlagen verrichten lautstark ihren Dienst. Aber so oder so rinnt der Schweiß bei den Zuhörern in Strömen. In dem Raum sitzen etwa neunzig Personen, fast alle sechzig Jahre und älter. Einige Frauen wedeln sich mit ihrer Einladung Luft zu. Auf dieser heißt es in der Anrede „Werte Verbandsmitglieder“.
Wir befinden uns in Tel Aviv beim „Verband deutschsprachiger Schriftsteller in Israel“. Und geehrt wird der 95 Jahre alt werdende Dramatiker Max Zweig, dessen Lebenserinnerungen sein bundesdeutscher Verleger gerade rechtzeitig mitgebracht hat. Neben Max Zweig sitzen der Vorsitzende des israelischen Schriftstellerverbandes und der Verleger, vor Max Zweig steht ein Vase mit fünf rosaroten Rosen, und nur für sie scheint der alte Mann Augen zu haben. Aber wer ist eigentlich Max Zweig? Arnold Zweig - natürlich (sie sind nicht miteinander verwandt). Stefan Zweig ebenfalls kein Unbekannter (sie sind miteinander verwandt). Aber Max Zweig? Max Zweig hat 22 Dramen in deutscher Sprache geschrieben, die mit zum Teil großem Erfolg aufgeführt worden sind - in Deutschland (vor 1933) und Österreich, in Finnland und Israel, in den USA und Argentinien. In Paris wurde eines seiner Stücke (in dem es um den Krieg zwischen Arabern und Juden geht) hundert Mal en suite gespielt; ein anderes erhielt 1957 den Preis der Bregenzer Festspiele.
Hans Mayer nennt ihn (im Vorwort zu Zweigs Lebenserinnerungen) einen Menschen, „den es niemals reizte, zu irgendeiner Prominenz zu gehören“. Und einem fortwährenden Bühnenerfolg stände unser zeitgenössisches Theater im Weg, das idealistische Helden verpöne. Doch möglicherweise hat es einen ganz profanen Grund, daß Max Zweigs Stücke auf deutschen Theatern nicht mehr gespielt werden. Er ist, wie fast alle in diesem Saal, seiner Sprachheimat schon seit mehr als vierzig Jahren fern, vielleicht ist es pathetisch zu sagen: Beraubt, doch dafür ist es wahr. Obwohl im Land seiner Väter, lebt er in einem Sprachghetto, denn er spricht, wie er sagt, nur „ganz wenig Hebräisch“, seine Sprache sei Deutsch geblieben. Ich frage, was für ihn das Wort Heimat bedeute, und Max Zweig antwortet ohne Zögern: „Als Heimat empfinde ich jetzt Israel, das Vaterland ist nach wie vor Österreich.“ Für einen geistigen Menschen sei die Sprache das wesentlichste Lebenselement, und er sei zu alt gewesen, um das noch zu ändern, als er 1938 nach Palästina kam.
In seinen Lebenserinnerungen sind die Nöte und Schwierigkeiten dessen dargestellt, der im neuen Land sich weiterhin mit seiner alten Sprache verständigte („Ein Dramatiker, der deutsch schrieb, war nicht nur überflüssig und unnütz, er mußte als unwillkommen erscheinen“). Max Zweig läßt in seinem Buch unser Jahrhundert schmerzvoll Revue passieren. Er, der die klassischen deutschen Dramatiker verehrt und liebt und der durch die Sprache, „welche meine geistige Welt ist, untrennbar an die Deutschen gebunden schien“, konnte sich bis zum Schluß nicht vorstellen, daß „die Deutschen so hirnverbrannt und gottverlassen sein würden, Hitler zu ihrem Herrn und den allgewaltigen Gebieter zu machen“. Doch 1934 erkannte er: „Ein Jude hatte in Deutschland nichts mehr zu suchen.“ Von 1920 bis 1934 hatte er in Berlin gelebt und gearbeitet, 1924 die Premiere seines ersten Dramas Ragen im Mannheimer Nationaltheater feiern können. Vier Jahre lang wohnte er von 1934 an mit seiner Frau in seinem kleinen Geburtsort in der Tschechoslowakei, schrieb dort das die Zeitumstände in Deutschland gestaltende Drama Der Abgrund, um 1938 nach Palästina zu gehen. Es war eine Entscheidung für immer.
Seit er vom entsetzlichen Tod der Millionen seiner Glaubensbrüder erfahren hatte, fühlte er sich vor den Opfern schuldig. Er wollte „Buße“ tun, und das hieß für ihn: Das furchtbare Los der Vielen in der Phantasie so intensiv durchleben, daß er fähig wurde, ein Drama darüber zu schreiben. Dieses Drama ist entstanden, es heißt Ghetto Warschau - nur ist es in Deutschland nie gespielt worden, weder in der Bundesrepublik noch in der DDR. Das Stück wurde schließlich in Finnland von zwei großen Theatern aufgeführt.
Max Zweigs Existenznot war immer präsent, auch in der neuen Heimat verließ ihn nie das Bewußtsein, am „Rande eines Abgrunds zu leben“, und er ist davon überzeugt, daß es immer neue kleine Wunder waren, die ihn vor dem letzten Elend bewahrten. „In jedem anderen Land als Israel“, sagt er, „wäre ich verhungert oder hätte Selbstmord begangen.“ Ein weiteres kleines Wunder ist, daß er im Alter von 93 Jahren das Erscheinen dieses Buches erleben darf. Ein Buch, in dem auch der Satz zu lesen ist: „Meine Erwartung, nach dem Ende des Dritten Reichs in Deutschland aufgeführt zu werden, erwies sich als eine Illusion: Kein Theater bezeigte das geringste Interesse für eines meiner Dramen.“ (Im Buchhandel erhältlich ist eine 1984 erschienene Ausgabe von Max Zweigs Dramen: Die Liebe in uns vergrößern, Universitäts-Verlag Wagner, Innsbruck).
Benno Fruchtmann ist einer der Jüngeren von den deutschsprachigen Schriftstellern Israels. 1913 im thüringischen Meuselwitz geboren, kam er 1935 erstmals nach Innsbruck, ging wieder zurück nach Deutschland, um seine Brüder aus dem KZ Dachau freizukaufen. 1938 verließ er endgültig Deutschland und mußte wie die meisten Einwanderer alles mögliche tun, um zu überleben. Er arbeitete in Kantinen, war Kellner, kam später in seinem gelernten Beruf als Gebrauchsgrafiker unter. Die Steine beim Hausbau reichte man sich damals mit den Worten: „Bitte, Herr Doktor! Danke, Herr Professor!“ Seine Frau Mirijam, die selbst bildhauerisch arbeitet, kommentiert: „Ein ganz normales Schicksal in Israel.“
Seit 1970 schreibt Benno Fruchtmann „ernsthaft und systematisch“ - auf Deutsch. Ihm ist die Assimilation ins Hebräische nicht gelungen. Natürlich spricht er die Sprache des Alten Testaments, aber sich darin auch literarisch auszudrücken, ist nur ganz wenigen gelungen. „Aus einem Land kann man auswandern, aus einer Sprache nicht“, hat Schalom Ben-Gurion, der Wegbereiter des christlich-jüdischen Dialogs in Deutschland so knapp wie zutreffend formuliert.
Benno Fruchtmann publiziert seit vielen Jahren bei deutschen Rundfunkanstalten, vor allem bei Radio Bremen. Eine Reihe von Hörspielen sind von ihm gesendet worden, auch Gedichte und Erzählungen. 1985 erschien sein erstes mit Anerkennung und Respekt aufgenommenes Buch Maskerade. Es ist eine Sammlung von unterschiedlichen Texten, Gedichten und essayartiger Kurzprosa. Bei seinen Arbeiten fällt vor allem der immense Sprachwitz auf, die souveräne Handhabe von Humor und Ironie. Eines seiner schönsten Stücke ist die Ballade vom Schneider Motke, der seinen König aus Todesgefahr rettet und von diesem nichts anderes zur Belohnung will, als jenes Gefühl erklärt zu bekommen. Der König, nachdem er alles versucht hat, legt schließlich dem Schneider selbst die Schlinge um den Hals und entläßt ihn mit diesem Gefühl und keiner Erklärung. Es gibt wohl kaum eine einprägsamere Parabel für die Geschichte des jüdischen Volkes in diesem Jahrhundert.
Auch Benno Fruchtmann stelle ich die Frage nach der Heimat. „Sehr gern möchte ich ein Kosmopolit sein“, antwortet er, „ich fühle mich mit den Deutschen, den Chinesen, den Arabern verbunden, die guten Willens sind, den anständigen Menschen eben.“ Und als ich insistiere auf der Frage nach Heimat, meint er achselzuckend: „Soll sein Israel.“
Nicht alle deutschsprachigen Juden, die nach Israel kamen, sind dieser Ansicht auf Dauer gewesen. Arnold Zweig kehrte Ende der vierziger Jahre sprachvereinsamt zurück nach Berlin, nach Ost-Berlin. Und Else Lasker-Schüler, die 1937 die begeisterte Reiserzählung Das Hebräerland geschrieben hatte, dichtete später in Jerusalem melancholisch: „Ich habe zu Hause ein blaues Klavier / Und kenne doch keine Note / Es steht im Dunkel der Kellertür / seitdem die Welt verrohte.“
Viele Klaviere der jüdischen Autoren verstummten für eine Reihe von Jahren gänzlich. Max Brod etwa schrieb ein Jahrzehnt lang, von 1939 bis 1949, fast nichts. In deutscher Sprache zu schreiben, war für ihn wie für viele andere mit zu großen Gewissenskonflikten verbunden. Der Romancier Erst Weiss läßt in seinem letzten Roman 1938 seinen Helden sagen: „Die deutsche Sprache aber, in der unsereins eben dachte, hoffte, fürchtete, rechnete, sich erinnerte und träumte... das war eigentlich die verbotene Sprache, etwas, das uns nicht mehr gehörte und das uns hätte fremd geworden sein müssen. Und war es doch nicht.“ Von Else Lasker-Schüler berichtet Ben-Gurion: „Sie konnte keinen hebräischen Satz sagen, sie blieb ganz eins mit der deutschen Sprache, sie war eine Verscheuchte.“
Hinzu kam, daß die deutsche Sprache in den dreißiger und vierziger Jahren verhaßt war als Sprache der Verfolger. „Sprich Hebräisch oder stirb“, hieß eine Parole der Davongekommenen. Doch in dem verpönten Deutsch war auch Theodor Herzls Manifest Der Judenstaat (1896) geschrieben, von den großen Dichtungen deutscher Juden ganz abgesehen. Die deutschsprachigen Schriftsteller Israels befanden sich in einer extremen Isolation und Entfremdung. Die Lyrikerin Masche Kaleko, die vor einiger Zeit in der Bundesrepublik wiederentdeckt wurde, wanderte unstet weiter und liegt in Zürich begraben. Leo Perutz, der Autor solch glänzender Romane wie Der Meister des Jüngsten Tages und Nachts unter der steinernen Brücke starb nach langen Jahren in Tel Aviv schließlich in Bad Ischl.
Einer der ganz wenigen, denen es gelungen ist, in Deutsch und Hebräisch zu schreiben, ist der 1937 in Wien geborene Elasar Benyoetz, der eine Reihe belletristischer Bücher sowohl in Deutschland wie in Israel publiziert hat. Heimat, erzählt er, bedeute ihm nichts, Israel bedeute ihm etwas, Hebräisch sei seine größte Liebe und zur deutschen Sprache habe er eine gestörte Beziehung. Ich frage ihn, warum er noch auf Deutsch schreibe, er antwortet zögernd: „Ich war dem Deutschen verfallen. Lange nach dem Abschied aus Deutschland erwischte mich die deutsche Sprache in Jerusalem. Ich mußte deutsch schreiben.“ Ich sage: „Das ist die Geschichte einer Hörigkeit.“ Später lese ich einige seiner Aphorismen nochmals und einer springt mir ins Auge: „Wo einst ein Wort gefallen, da steht ein Mensch und wartet.“
Doch Elasar Benyoetz‘ Zweisprachigkeit ist die Ausnahme, die meisten schreiben auf Deutsch. Wenige stellen so unumwunden und trocken wie der 87jährige Fritz Naschitz fest: „Die deutsche Sprache ist mir Heimat für heut‘ und für immer.“
Doch wie lange dauert dies Immer noch? Die Schriftsteller in diesem Saal, die deutschsprachigen Schriftsteller Israels, haben kaum noch ein Lesepublikum in Israel. Es ist wohl so, wie die in Tel Aviv ansässige und in Würzburg lehrende Germanistin Margarita Pazi meint: Diese Schriftsteller werden keine Erben haben. Mit der Generation der Max Zweig, Fritz Naschitz geht die bedeutsame deutsch -jüdische Symbiose in der Literatur langsam aber sicher zu Ende. Was aber bleibt? Unter anderem jene Verse Schalom Ben -Gurions: „Fast jede Nacht geh ich durch ferne Straßen / Darin mein kleiner Kinderschritt verhallt / Und meine Mutter führt mich blassen / Verträumten Knaben durch den Sommerwald / Ich muß jetzt viel an Deutschland denken / Und weiß erst jetzt, wie sehr ich ihm gehört / Wenn andre mutig ihre Schiffe lenken / Steh ich am Hafen still und schmerzverstört.“
Lothar Schöne
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