: Avantgarde in der Provinz
■ Jürgen Wesseler, Chef des Bremerhavener Kunstvereins, kämpft einzeln für aktuelle Kunst
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Mann vor Wand
Jürgen Wesseler
Daß die Museumspläne des Bremer Bauherrn Hans Grothe in Bremerhaven auf offene Ohren stoßen, liegt nicht nur an den Wirtschaftsförderern, die die kriselnde Stadt attraktiver machen wollen — es liegt auch an der Maulwurfsarbeit, mit der der Ausstellungsmacher und Chef des Bremerhavener Kunstvereins, Jürgen Wesseler, seit mehr als zwanzig Jahren für die Gegen
Foto: Heiko Sandelmann
wartskunst streitet. 1967 gründete er mit einer Gruppe studentenbewegter JungbürgerInnen das „Kabinett für aktuelle Kunst“: Aus dem schmalen 40-Quadratmeter-Raum im Schuhkarton- Format wurde ein Ausstellungsort mit „Weltklasse-Niveau“, wie der Kunstkritiker Peter Moritz Pickshaus 1983 attestierte.
Jürgen Wesseler gelingt es seit zwanzig Jahren, Künstler der europäischen und amerikanischen Avantgarde für die Gestaltung des Kabinetts zu interessieren. Sie entdeckten schnell den Reiz des von allen großstädtischen Kunstszenen abgelegenen Kuriosums, das zunächst als Ladenraum gedacht war und dessen vierte Wand aus einer Fensterfront besteht.
1969 kam Palermo zum ersten Mal, 1971 Gerhard Richter. Die Liste der großen Namen ist lang: Sigmar Polke, Günther Uecker, W. Knoebel, Reiner Ruthenbeck, Ulrich Rückriem, Hanne Darboven, Lawrence Weiner, Franz Erhard Walther, Giovanni Anselmo, Sol LeWitt, Gerhard Merz, Joseph Kosuth, Jerry Zeniuk, Richard Tuttle... Weit über 100 Ausstellungen hat Jürgen Wesseler im Kabinett organisiert. Die Künstler, die er bittet zu kommen, verlangen für ihre Arbeit im und mit dem Kabinett kein Geld, sie werden mit Unterkunft und Verpflegung entlohnt.
Unbezahlbar ist auch die ehrenamtliche Tätigkeit des heute 52-jährigen Kunstenthusiasten, der hauptberuflich im Stadtplanungsamt sitzt und vor drei Jahren zum Chef des Bremerhavener Kunstvereins gekürt wurde. Befragt nach der Kunst, die er schätzt, antwortet Wesseler, ihn reize die Kunst, die ihm fremd sei, er suche immer nach dem, was nicht irgendwer schon vergedacht und vorgemacht hätte. Es sind die Minimalisten, Arte-povera-und Concept-Art-Künstler, die ihn am meisten fesseln. Er bevorzugt die Arbeit mit sparsamsten Mitteln, die Künstler, die sich vom Tafelbild entfernen und in ihrem Medium nach den Bedingungen des Mediums fragen. An On Kawaras kargen Mitteilungen liebt er die „präzise Übereinstimmung von Inhalt und Form.“ On Kawara hatte seit 1968 täglich zwei Ansichtskarten an Galeristen, Künstler und Kritiker in alle Welt verschickt Auf der Rückseite hatte er den Satz „I got up at...“ („ich bin aufgestanden um...“) mit Datum, Uhrzeit und Aufenthaltsort versehen. Jürgen Wesseler bat ihn um eine Ausstellung in Bremerhaven. Am 20. Dezember 1976 kam die erste Postkarte, 1977 wurden 130 an Wesseler adressierte Karten „einmal rundherum im ganzen Kabinett“ ausgestellt. Kopfschütteln, böse Leserbriefe und Beschwerden gab es nicht nur bei On Kawaras Karten. Das „Das kann ich auch“-Syndrom verfolgt Wesseler bis heute. „Wenn ich das höre, frage ich die Leute, was sie denn machen würden. Dann kommt heraus, daß alles, was ihnen einfällt, schon gemacht worden ist, und sie merken erst, wie wenig sie können.“
Jürgen Wesseler schätzt die pointierten, apodiktischen Sätze. Seine Arroganz, die er genießerisch ausspielt, ist ein Selbstschutz, hinter dem sich der Einzelkämpfer versteckt. Obwohl einige ihn für einen „elitären Hochkulturwichser“ halten, gibt er die Provinz nicht auf, vielleicht, weil er sich so gut an ihr reiben kann und weil ihm gerade hier das Unmögliche gelungen ist: mit einer winzig kleinen Szene Interessierter die Avantgarde zu locken. Auf die Frage nach Grothes großen Museumsplänen antwortet er ohne zu zögern: „Es ist das beste, was Bremerhaven passieren kann.“ hh
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