: Eine oder gar keine Kultur
■ Die »Tollen Tage« im Park der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik
Im allgemeinen macht das kulturelle Leben vor den Pforten der Krankenhäuser, und da insbesondere wieder vor denen der psychiatrischen Kliniken, halt. Um am gesellschaftlich-kulturellen Leben teilhaben zu können, hat man als Mindestvoraussetzung gesund zu sein (bzw. was man so heißt). Wer diese Voraussetzung nicht erfüllt, muß sich damit abfinden, daß sein Alltag sich auf Krankheit und Behandlung derselben reduziert, unterbrochen von oft nur seltenen Besuchen; einziger Farbtupfer im weißen Einerlei: der kabelgespeiste Colour-TV. Zur krankheitsbedingten Reduzierung der Möglichkeiten tritt also, gerade und besonders in psychiatrischen Kliniken, noch soziale und kulturelle Isolation, die die gesellschaftliche Ausgrenzung dieser Menschen selbst bei bester medizinischer und therapeutischer Betreuung nahezu komplett macht.
Auch von seiten der Kliniken wird inzwischen mindestens eine kulturelle Veranstaltung pro Monat gewünscht. Aber von der satten halben Milliarde des Berliner Kulturetats ist keine Mark für Kultur in Krankenhäusern vorgesehen. Wenn also bisher Kultur angeboten wurde in Berliner Kliniken, ging es entweder zurück auf private Initiativen des ohnehin schon überlasteten Pflege- und Betreuungspersonals, oder aber man bekam einen der drei Unterhaltungsmusiker mit, die im Auftrag der Abteilung »Soziale Künstlerförderung« des »Landesamtes für zentrale soziale Aufgaben« mit elektrischem Klavier durch die 114 Berliner Kliniken tingeln — mit je ungefähr zehn Einsätzen pro Monat.
Auf das Fehlen einer Idee und eines Konzeptes kann sich jetzt jedenfalls niemand mehr zurückziehen. Denn mit dem ZeltMusikFestival im Park der Karl-Bonhoeffer-Klinik wurde jetzt ein Projekt verwirklicht und vorgestellt, das einen Ausweg aus der Misere weist.
Vom 6. bis zum 12. September fand ein ZeltMusikFestival im Park der Karl-Bonhoeffer-Klinik statt, das Theater- und Musikveranstaltungen von »draußen« ohne speziellen Zuschnitt auf das Publikum »drinnen« für beide Gruppen gleichermaßen vorstellte; und sich damit absetzen wollte von jenen Alibiprojekten, die nicht viel mehr sind als billiger Unterhaltungsklamauk, Ruhigstellung in pseudokultureller Verlängerung. Unsere Kultur, in bezug auf Gesunde und Kranke gesehen, ist eine oder gar keine, jedenfalls für die Kranken. Das war die Maxime, unter der dieses ZeltMusikFestival stand. Die Veranstalter wollten sich damit aus dem Dilemma befreien, daß alle Kulturprogramme in einem Behandlungskonzept immer schon mitgedacht sind. »Sobald wir mit den Patienten sprachen, geriet das zu Gesprächstherapie; machten wir mit ihnen Musik, geriet es zu Musiktherapie; verreisten wir mit ihnen, geriet das unversehens zu Reisetherapie«, erzählt der Leiter des Funktionsbereichs Therapeutische Dienste, Dieter Stahlkopf. So wurde die Konfrontation mit ganz gewöhnlichem außerklinischem Leben in viel höherem Maße zurückgedämmt als notwendig. Patienten, die man wieder entlassen zu können glaubte, zeigten sich vom Leben draußen überfordert, weil sie aufgrund des massiven Entzuges von Gesellschaftlichkeit in der plötzlichen Wiederkonfrontation einen regelrechten Schock erlitten. Letztlich, so wird im Therapiebereich weitergedacht, rechnet sich eine Öffnung der Klinik sogar finanziell, aufwendige und teure Maßnahmen zur gesellschaftlichen Wiedereingewöhnung könnten besser verwendet werden, wenn man nur den Mut aufbrächte, den gesellschaftlichen Überentzug — denn genau das ist jene Übertherapierung — aufzuheben.
Ein erster Schritt dazu war, mit der Tradition der völligen Abgeschlossenheit der psychiatrischen Klinik von der Außenwelt zu brechen und die Klinik — was damals von Bürgerprotesten begleitet war — zu öffnen. Seit zwei Jahren also ist der Park der Karl- Bonhoeffer-Klinik auch der Öffentlichkeit frei zugänglich; ein Angebot der Klinik an die Menschen draußen einerseits, der Versuch, die überscharfe Trennung von draußen und drinnen aufzuweichen, ein Stück gewöhnlichen Alltags und sozialen Umfelds in die Klinik zu holen, andererseits. Bisher wird dieses Angebot nur wenig angenommen, nicht nur aus Berührungsängsten. Denn die Klinik ist in gewisser Hinsicht ein ziemlich genaues Abbild der inneren Wirklichkeit unserer Gesellschaft; dieselben psychischen Mechanismen und Reaktionen, nur, da ohne die Puffer der Konvention und ohne die gewohnten Fluchtmöglichkeiten und Alltagsfüllsel, in radikaler Nacktheit oder auch in expressionistischer Überzeichnung. Da kann einem schon mulmig werden.
Wer sich auf die Tollen Tage einließ, konnte erfahren, wie schmal oft der Grat ist, auf dem sich psychisch gesund und krank scheiden, bzw. wie sehr diese beiden Begriffe doch ineinander verschwimmen. Da sitzt ein Mann in der Caféteria und kommentiert politisches Tagesgeschehen, blitzgescheit, witzig. Nur plötzlich ein merkwürdiges inneres Abdrehen ... Verwirrung — wo ist der, der gerade noch kabarettreif brillierte? Oder: Sonst fast ganz in sich zurückgezogene Patienten beginnen auf einmal zu afrikanischen Rhythmen vor der Bühne zu tanzen.
Den Abschluß der Tollen Tage bildete eine Truppe des Kölner Werkstatt-Theaters, das die Einbeziehung des Publikums in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellt. Doktorspiele ist eine dokumentarische Theaterrevue über die »Behandlung« psychisch Kranker im Dritten Reich, collagenhaft zusammengefügte szenische Darstellungen von Vernehmungsprotokollen und anderen mündlichen wie schriftlichen Äußerungen an den Euthanasieprogrammen Beteiligter, klar und teilweise ungeheuer provokant gespielt. Da werden Nazithesen über sogenanntes »lebensunwertes« Leben direkt ins Publikum gesprochen in einer Weise, daß man sich selbst als Lebensunwerter angesprochen fühlt, aber auch so, als sei man einer, der selbst solch eine Meinung jederzeit vertreten könne. Gerade in diesem Stück kamen Reaktionen aus dem Publikum, die einen unwillkürlich an all das denken ließen, was, jenseits der Nazigreuel, bis heute den psychiatrischen Kliniken schärfste Kritik einträgt. Spontaner Beifall auf den Satz: »Alle Ärzte sind Monster«, oder ein Zwischenruf auf die Bühne: »Wenn Sie 15 Jahre in einer psychiatrischen Klinik wären, hätten Sie auch nichts mehr zu lachen.« Doch kam diese Thematik nicht erst jetzt in die Bonhoeffer-Klinik, die vor einem Jahr mit einer Ausstellung die Ergebnisse eigener Nachforschungen über die NS-Vergangenheit in der Klinik vorgestellt hatte.
Das Feedback beschränkte sich nicht auf die Reaktionen während oder kurz nach den Aufführungen, noch Tage später bieten diese Veranstaltungen Gesprächsstoff für Patienten, Betreuer und Besucher. Erste Ideen aus der Erfahrung mit diesem Experiment sind schon entwickelt, um noch mehr Patienten, die sich an das Unvertraute noch nicht heranwagten, mit Vorlaufprogrammen auf den Stationen zu motivieren. Nur mit dem Geld hapert es. Die Veranstaltungskosten dieser Reihe beliefen sich auf ungefähr 150.000 Mark. Das kann kaum durchweg von Sponsoren, ein paar Spenden und Künstlern, die auf ihre Gage verzichten, aufgebracht werden, sondern muß öffentlich getragen werden. Wünsche seitens der Patienten wurden schon geäußert, ein Musical zum Beispiel. Bernward Eberenz
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