: Den ganzen 18. durchschlafen
Vor zwanzig Jahren nahm Jimi Hendrix ein paar Schlaftabletten/ Ein neues Buch erinnert daran, daß er ein schwarzer Musiker war/ Wir bringen einen Vorabdruck ■ Von Charles Shaar Murray
Die „autorisierte Version“ von Jimi Hendrix' experience (sic!) ist die: Hendrix war ein verrückter Schwarzer, der merkwürdige Dinge mit einer Gitarre trieb, Tausende von Frauen hatte und schließlich an Drogen starb, was eine Schande war, denn er war wirklich ein guter Gitarrist, und er konnte sogar mit den Zähnen spielen. (Wie David Bowies Ziggy Stardust: „He took it all too far /but, boy, could he play guitar“ — „Er ging zu weit, aber, Mann, konnte er Gitarre spielen“). Er ist der geeignete Brennpunkt für hübsche Verallgemeinerungen über die dem Hardrock innewohnende Phallozentrizität, die Übel des Drogenmißbrauchs und die reaktionäre Langweiligkeit ausgedehnter Gitarrensoli, ebenso auch für rührselige oder warnende Predigten über die verderbliche Macht des Starruhms, den naiven Idealismus der Sechziger, der so vergeblich war, und darüber, wie schrecklich es ist, daß so begabte Leute manchmal so jung sterben.
Alles das wurde verdaut. Hendrix ist ebenso geeignet als Symbol für die Exzesse, die Genüsse und Prätentionen seiner Zeit wie für ihre Sehnsüchte und ihre hochfliegende Einbildungskraft. Sein Tod, wie der endliche Kollaps der Beatles, eignet sich gut als kultureller Markstein für den Moment, als (je nach persönlicher Auffassung dieser Dinge) der Bogen zur Jahrtausendwende auf seiner Höhe abgeknickt wurde oder als — Gott sei Dank — alle wieder zur Vernunft kamen und wieder ganz normal ihren Geschäften nachgingen.
Wenn wir uns aber aus dem komfortablen Bad der wohlig warmen Privatgeschichte hinausbegeben, dann entdecken wir wieder dieses solide Skelett, das nicht durch den Filter hindurchgeht, das sich der Reduzierung auf ein Klischee-Beispiel, auf beliebig reproduzierbare Manierismen und auf einen ordentlichen Packen seiner größten Hits verweigert. Seine gesamte Karriere — von den Tagen an, als er noch als Gitarrist in schäbigen Clubs und Bars engagiert war, bis zum Höhepunkt als internationale Zelebrität — war ein endloser Kampf gegen rassische und kulturelle Stereotypen; zunächst saß er in der Falle einer ebenso gedankenlosen Annahme all dessen, was ursprünglich nur als Mittel gedacht war, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf seine Musik zu lenken. Seine Innovationen wurden entwickelt, um sich ein persönliches Vokabular zu schaffen; er wurde als Schaunummer bestaunt, wo er sich als Poet sah.
Um es ganz einfach zu sagen, er war der beredteste Instrumentalist, der je in der Rockmusik gearbeitet hat. Ich habe B.B. King einmal gefragt, ob er Jimi Hendrix für einen Bluesmann halte. Er sah mich mitleidig an und antwortete: „Ich halte ihn für einen Musiker, einen sehr, sehr großen Musiker.“ Da die „Rockkritik“ gewöhnlich von Flüchtlingen aus irgendwelchen Literaturklassen praktiziert wurde, ist die Diskussion über Musik als Musik für gewöhnlich einer Analyse der Texte untergeordnet worden, während dem musikalischen Arrangement nur geringe Aufmerksamkeit gewidmet wurde (eine Methode der Kritik, die übrigens gerade den schwarzen Musikern im allgemeinen wenig gerecht geworden ist, da der textliche Inhalt der Blues- und Soulmusik ein untrennbarer Teil des Ganzen ist und somit vom musikalischen Kontext und der Intonation der Stimme abhängt, um bis ins letzte verstanden werden zu können). Hendrix selbst war ein Komponist und Lyriker von bemerkenswertem Talent, aber seine Begabung als Songschreiber ist von seinem Können als Showman und Instrumentalist weitgehend überschattet worden. Dennoch hat er durch sein Instrument eine persönlichere „Stimme“ entwickelt, als es den meisten Popmusikern durch ihre Worte gelingt.
Star Spangled Banner
Hendrix kannte die Methode ganz genau, soweit sie die Lage der schwarzen GIs betraf: In Vietnam stellten sie zwei Prozent der Offiziere, wurden aber zu 28 Prozent der Fronteinsätze herangezogen. Als er Machine Gun „allen Soldaten, die in Vietnam kämpfen“, widmete, machte er weder Sprüche für das Publikum, noch leistete er sich billige Ironie. Hendrix wußte ganz genau, wer in Vietnam den Preis für die Schachzüge der Politiker bezahlte, und als er die unheimlich lautmalerische Kraft seiner Gitarre beschwor, um die Klänge der städtischen Aufstände und der Dschungelkämpfe hervorzurufen — wie er es in Machine Gun und The Star Spangled Banner getan hat — nutzte er dazu jedes Atom dieses Wissens.
Diese Vorträge klangen so authentisch, daß Vernon Reid, der Vor- Metal-Gitarrist, der Living Colour leitet und die Black Coalition zu gründen half, einmal fest glaubte, Hendrix sei ein Vietnam-Veteran. Reid kennt Jimi Hendrix' Musik durch und durch, dessen persönliche Geschichte aber weit weniger, doch sein Irrtum enthält nichtsdestoweniger eine tiefe psychologische Wahrheit. „Hendrix“, sagt Reid, „hat die ganze Vietnam-Erfahrung verinnerlicht. Er ist drin, vollkommen darin eingetaucht, und er geht über das Spielen hinaus. Selbst das Feedback klingt, als ob Menschen weinen und wie Dörfer im Napalmregen... Er schaltet sich in etwas ganz Tiefes ein, jenseits von Gut und Böse.“
Hendrix hat das Star Spangled Banner bei verschiedenen Gelegenheiten gespielt, aber die bekannteste Version der Nationalhymne seines Landes ist die, die er auf dem Höhepunkt seines Auftritts beim Woodstock-Festival („Drei Tage Friede und Musik“) im August 1969 gespielt hat. Es war eine tödliche Ironie: ein Schwarzer mit einer weißen Gitarre, eine Masse Publikum, fast ausschließlich Weiße, die sich in einem Feld von selbst produziertem Matsch wälzten; die klaren, reinen, trompetenhaften Töne der vertrauten Melodie, die sich mühten, durch die Wolken von Tränengas, die Explosionen der Streubomben, die Schreie der Sterbenden, das Knistern der Flammen, die schweren Rauchwolken, die von menschlichem Fett stanken, zu dringen, darüber noch das Knattern der Hubschrauber... Es ist nur zu gerechtfertigt, daß Francis Ford Coppola Randy Hansen engagierte, einen jungen Gitarristen, dessen Act für gewöhnlich aus Ton-für- Ton-Reproduktionen von Hendrix, mit Perücke und Make-up, bestand, um einen intensiv an Hendrix angelehnten Gitarren-Overkill zu liefern als Soundtrack für eine Hinterhaltszene in seinem Vietnam-Exorzismus von 1979, Apokalypse Now.
Das Star Spangled Banner ist wahrscheinlich das komplexeste und machtvollste Werk in der amerikanischen Kunst, soweit sie sich mit dem Vietnamkrieg und seiner verderblichen, entstellenden Wirkung auf die Psyche der nachfolgenden amerikanischen Generationen befaßt. Ein einziger Mann mit einer einzigen Gitarre sagte in dreieinhalb Minuten mehr über diesen besonders widerlichen Krieg und seine Nachwirkungen aus als alle Romane, Memoiren und Filme zusammengenommen. Es ist eine Interpretation der Geschichte, die weder Raum läßt für den blinden revisionistischen Eifer eines Sylvester Stallone oder Chuck Norris noch für die ichbezogenen Ängste von Coppola und Stone. Es stellt so plastisch, wie das ein Stück Musik nur tun kann, sowohl das heraus, was die Amerikaner den Vietnamesen angetan, wie das, was sie sich selber zugefügt haben...
Blues — Sexualität — Hardrock
... Die Geschichte, wie die Sexualität, die sich im Blues ausdrückt, allmählich zum Peniswahnsinn des Heavy-Metal-Rock mutierte, ist lang und kurios. Schlaue „Hard“rocker wie David Coverdale legitimieren ihren sexistischen Schwulst durch Zitate von Blues-Vorläufern: Na ja, die alten Bluestypen sangen doch auch immer von vögeln und „Suff“, oder nicht? Die Antwort ist: Ja, natürlich taten sie das — es gibt mehr Bluessongs über Frauen als über irgend etwas anderes, mit Alkohol und Geld gleich dahinter — aber leider ist das Leben nicht so simpel. Diese Songs sind erheblich kompletter als eine schlichte Transkription ihres Textes (oder sogar die von einer weißen Band nachgespielte Version) auch nur vermuten läßt.
Es ist Tradition, daß die Weißen ihre Machtstrukturen am wenigsten durch die Schwarzen bedroht finden, wenn diese entweder von Jesus oder von Sex und Tanz singen. Im Endergebnis wurden solche Songs mehr oder weniger zu Gesangscodes über praktisch jedes Thema unter der Sonne, und der letzte Sinn einer Blues-, Soul- oder Gospelnummer wird höchstwahrscheinlich durch die Nuancen der rhythmischen Betonung oder den vokalen Ton und seine Auszierungen ebenso vermittelt wie durch den offenen Inhalt seines Textes. Die besten und schönsten Momente im weißen, auf dem Blues basierenden Rock entstanden durch das kreative Mißverstehen des Untertextes der Musik, die die Initialzündung lieferte; die schlechtesten entstanden durch die krasse Übertreibung des oberflächlichen Eindrucks und durch das besoffene Ego der Bübchen, die da posierten und nicht zu begreifen schienen, daß sie den Schwanz von jemand anderem in ihre Hosen stopften.
Nehmen wir ein typisches Beispiel: Muddy Waters' 1963er Aufnahme von You Need Love, wie sie sich, nur sechs Jahre später, in Led Zeppelins Whole Lotta Love verwandelt hat (ein Prozeß, bei dem Willie Dixons Rolle als Komponist des Ganzen irgendwie unter den Tisch fiel). Das erstere ist eine Verführung, und sein schlimmstes Verbrechen, selbst nach heutigen sexualpolitischen Vorstellungen, ist, daß man es als leicht herablassend und väterlich-überlegen ansehen könnte, „onkelhaft“ wäre wohl der passendere Ausdruck dafür. Muddys Ton ist warm und besorgt: Er macht den Eindruck, als sei die Frau, die er ansingt, sowohl sexuell unerfahren wie ausgehungert nach Zuneigung, und erklärt sich bereit, beidem abzuhelfen. Die Musik, zu der You Need Love gesetzt ist, ist ein Echo auf Muddys Wärme, mit einer komplizierten Gitarrenfigur und einer Hammondorgel, die wie ein Schuß feinen Brandys in die Melodie einfließt; die Gesamtwirkung ist intim, locker und äußerst sinnlich.
Im Gegensatz dazu kommt Led Zeppelin daher wie eine thermonukleare Gruppenvergewaltigung. Die Frau — die in Muddy Waters' Song als wirkliche Person mit wirklichen Gefühlen in einer wirklichen Situation vorgestellt wird — ist hier auf ein bloßes Gefäß reduziert, ein völig passives Anwesendsein, dessen einzige Funktion es ist, den großen Zeppelin zu empfangen, mit dem angemessenen Grad an Verehrung und Dankbarkeit. Selbst ihre Reaktion ist überflüssig: Zeppelins Vokalist Robert Plant hat buchstäblich für sie den Orgasmus. Schließlich erfolgt die Befriedigung der Frau nicht ihr zuliebe, sondern ihm zuliebe: Sie ist die Bestätigung seiner männlichen Tüchtigkeit und der Preis für seine Zulassung zur urmännlichen Gesellschaft. Das Zurschaustellen ihrer maskulinen Fähigkeiten ist bei Heavy Metal ein Ritual, in dem sich die Männer gegenseitig feiern. Die Gegenwart der Frau ist streng abstrakt, gesichtslos; sie ist zwar ein wesentlicher Bestandteil in der Abfolge des Geschlechtsaktes, aber nicht als Individuum. „Liebe“ ist in diesem Zusammenhang ein beschönigender Ausdruck für etwas, das man mit einem Lineal messen kann; wenn Pant heult, „I'm gonna give your every inch of MAH LURVE“ — „Ich geb dir jeden Zentimeter meiner Liebe“), dann ist das Wort „Andeutung“ viel zu milde für die Intensität, mit der er zu verstehen gibt, daß seine Liebe ganz wörtlich sein Penis ist...
Schwarzer Künstler, weißes Publikum
Weder der „schwarze Künstler“ noch das „weiße Publikum“ ist ein simpler, monolithischer Block, auf den eine einzige, allumfassende Beschreibung paßt: „Der schwarze Künstler“ kann alles sein, von Toni Morrison bis Ornette Coleman, von Bill Cosby bis Public Enemy, von Diana Ross bis Spike Lee, während „das weiße Publikum“ Großstadt- Teenager, einen ländlichen Konservativen mittleren Alters oder irgend jemand sonst unter den unzähligen Möglichkeiten des Alters, Einkommens, der politischen Ansichten, des Geschmacks oder des geographischen Standortes bedeuten kann. So gibt es also viele Arten von weißem Publikum und viele schwarze Entertainer: Der erste und grundlegende Fehler der Rassisten, sowohl derjenigen mit liberalen als derjenigen mit konservativen Tendenzen, ist die Vorstellung, es gäbe da eine Art von platonischem Ideal des Schwarzen, und jeder Schwarze, der augenscheinlich nicht in dieses Ideal hineinpaßt, sei entweder ein Heuchler oder ein Schwindler. Und dieses Ideal ist natürlich zunächst einmal von den Weißen aufgestellt worden und nicht von den Schwarzen selbst. Es ist der weiße Experte, der im Zusammenhang mit der Popkultur entscheidet, wer schwarz ist und wer nicht: Mick Farren, der 1975 für den 'New Musical Express‘ schrieb, brachte es fertig, einen Satz Kriterien aufzustellen, die „bewiesen“, daß Bob Dylan „schwärzer“ als Isaac Hayes war; Nick Cohn, in der enorm einflußreichen Awopbopaloobopalopbamboom denunzierte Otis Reddings vom Gospel herkommende Frenetik als „guten alten (Onkel) Tom“, ohne jeden Hinweis darauf, daß er einmal darüber nachgedacht hätte, was eine solche Darbietung wohl für ein schwarzes Publikum bedeuten könnte.
Jimi Hendrix jedoch verstand die weiße Bohème instinktiv und die weiße Rock- and Roll-Bohème ganz besonders; schließlich hatte er mit ihnen Geschmack und Obsessionen gemein, und für eine gewisse Zeit wenigstens war er glücklich, ihnen geben zu können, was sie wollten, die Rolle des „Electric Nigger Dandy der Blumenkinder zu spielen“ — um John Morthland von der Rolling Stone zu zitieren — „ihren Preishengst und ihr goldenes Kalb, ihren Schöpfer kraftvoller Drogenmusik, ihre aufs empörendste sichtbare Macht“. Genau diese Art von Rollenspiel mag es gewesen sein, die seine Akzeptanz beim schwarzen Publikum verhinderte: Er verkörperte — zugegebenermaßen in der Weise des Summer of Love — genau die Art von Stereotyp, die viele schwarze Amerikaner so verzweifelt abzuschütteln suchten. Selbst einige seiner neu gefundenen britischen Kumpels, wie Eric Clapton, fingen an, die mörderische Ironie zu ahnen, mit der er diese verstaubten alten Mythen ausschlachtete.
Hendrix war allerdings schrill, exhibitionistisch, sichtlich voll von Drogen, ließ sich liebend gerne photographieren, umgeben von Blondinen und völlig bar all der Würde, Disziplin und Zurückhaltung, die das schwarze Amerika mittlerweile von seinen Entertainern verlangte. Es war der weiße Kritiker Robert Christgau, der Hendrix in Monterey gesehen hatte und ihn „einen psychedelischen Onkel Tom“ nannte. Aber er gab zweifellos nur wieder, was eine große Anzahl schwarzer Amerikaner empfand, die — anfangs wenigstens — Hendrix für einen drogenbenebelten Clown ansah, der zum Gaudium der Weißen den Nigger machte. Andere jedoch sahen das ganz anders. Für eine jüngere Generation schwarzer Amerikaner war Hendrix' schrille Selbstdarstellung eine positive Inspiration.
„Man muß sich die Gesellschaft ansehen, die uns ein bestimmtes Bild von uns selber gibt“, sagt Vernon Reid. „Auf einer bestimmten Ebene ist die Idee, aufzufallen oder deutlich seine Meinung kundzutun, durchaus verlockend, denn von früh an, als man noch klein war, gab es, wenn man schwarz ist, die gesellschaftliche Tendenz, deine Existenz zu negieren. Wie ist das, wenn man ein Nichts ist? Die kommen nicht an und sagen 'Du bist nichts!‘, aber Bandagen sind fleischfarben, auch wenn es nicht die Farbe deines Fleisches ist...Jetzt ist es schon viel besser geworden, aber zu der Zeit, als Hendrix aufkam, war das eben der Status quo. Wenn man also Leute sieht, die schwarz sind und sich empörend benehmen, dann ist das Selbstbehauptung. Es gibt diesen psychologischen Drang, sich zu behaupten, denn da ist das Gefühl, wenn man schwarz ist, ist man überhaupt gar nichts.“
Gospel and Soul
Die schwarze Kirche ist eine Show, und die weiße Kirche ist — außer im Süden — langweilig. Das schwarze Christentum lehnt sich immer noch sehr an die Vorstellungen von der Beziehung zwischen den physischen und den spirituellen Gebieten an. Während die Weißen passiv in die Kirche gehen, um Instruktionen von Gott zu bekommen, handelt es sich in der schwarzen Kirche um aktive Teilnahme und die transzendentale Erfahrung der Besessenheit von Gott. (Can you feel it? — Fühlst Du es? — Can I get a witness? — Kann ich Zeugnis ablegen?). Schließlich handelt es sich darum — für einige blendende, verzückte Momente — Gott zu sein. Wie ein Zelebrant es neulich in einem Film über die brasilianischen Variationen der westafrikanischen ekstatischen Religion sagte: „Wir gaben den Göttern eine Party — und die Götter kamen.“
Der verstorbene James Baldwin, der selbst Priester und Sohn eines Priesters war, schrieb in The Fire Next Time (1966): „Es gibt keine Musik wie diese Musik, kein Drama wie das Drama von den jubilierenden Heiligen, den klagenden Sündern, den rasenden Tamburins und all den Stimmen, die sich nie vereinen und dem Herrn seine Heiligkeit zurufen... Ich habe nie etwas gesehen, das dem Feuer und der Erregung gleichkäme, die manchmal, ohne Vorwarnung, eine Kirche erfüllen und sie, wie Leadbelly und viele andere bezeugt haben, dazu bringen kann, zu 'rocken‘.“
Das ist die zentrale Erfahrung in der Soulmusik, hier ist sie eingefangen. Für Gläubige und Nichtgläubige gleichermaßen ist der Soulsänger der Katalysator für das Erlebnis, das das Publikum mit dem göttlichen Paradoxon hat: gleichzeit außer sich zu geraten und in sich zu gehen. Was auch immer die technischen Defintionen der Soulmusik in Bezug auf Struktur und Instrumentation sein mögen, eine Darbietung, die man mit „soulful“ bezeichnet, ist eine, die diese theoretisch widersprüchlichen Bedingungen erfüllt, und die größten Soulsänger sind nicht notwendigerweise die, die die größte vokale Trickkiste haben (sonst wäre Whitney Houston die größte lebende Soulsängerin), sondern die, die uns am besten das Gefühl der Intensität geben.
Wenn man daran glaubt, ist es Soulmusik. Wenn man nicht daran glaubt, ist es nur eine Zurschaustellung leerer Virtuosität, die man am besten den Heavy Metal-Gitarristen überläßt.
Blues und Soul
In dem uralten Zwiespalt zwischen Gospel und Blues gibt es viele Dimensionen. Ein gemeinsamer Aspekt von Kirchen und Kneipen ist der, daß sie beide lange Zeit sozusagen die einzigen autonomen Institutionen waren, die die schwarzen Amerikaner hatten und daß sie — wie zu erwarten war — nicht nur sehr unterschiedliche Aktivitäten beherbergten, sondern auch ebenso deutlich unterschiedene Philosophien. Die Bluesleute lebten in einer immerwährenden Gegenwart, in der jeder Tag ein Kampf war, Vergnügen nur flüchtig und die einzig mögliche Reaktion auf das alles die Klage über widrige Umstände oder das Zurschaustellen einer kessen Haltung oder „stoischen Ironie“ (wieder Baldwin) war, wodurch sie es fertigbrachten, zu überleben. Das Kirchenvolk lebte rechtschaffen, pries den Herrn und hoffte auf bessere Tage. In vieler Hinsicht war der wesentlichste Unterschied der, daß die Kirchenleute sich als eine Gemeinde sahen, wogegen der Bluesman ein Außenseiter war, im tiefsten Sinne einsam. Natürlich war das ein Teil des romantischen Reizes, den der Blues auf empfängliche und unangepaßte Weise ausübte. Wie Eric Clapton 1987 Melvyn Bragg im britischen TV-Kulturprogramm The South Bank Show erläuterte:
„Ich hatte fast meine ganze Jugend hindurch das Gefühl, als stünde ich mit dem Rücken zur Wand und könne nur mit Würde und Stolz und Mut überleben. Ich hörte das aus bestimmten Musikformen heraus, und ich hörte das am meisten im Blues, denn da gab es immer nur den Einzelnen. Da waren nur ein Mann und seine Gitarre gegen die ganze Welt. Es war keine Gesellschaft oder Band oder Gruppe; wenn es darauf ankam, war es nur ein Mann ganz allein, der keine Wahl, keine Alternative hatte, der nur singen und spielen konnte, um seine Pein zu lindern.“
Clapton ist ein sensibler und scharfsichtiger Mensch, und hier legt er den Finger nicht nur auf das Geheimnis, das der Blues für ihn hatte (und, was das angeht, auch für Jimi Hendrix), sondern auch auf den Grund, warum er aufgehört hat, für die schwarzen Amerikaner ein angemessenes Ventil zu sein. Die Schwarzen hatten übergenug davon, sich „zutiefst einsam“ zu fühlen und ohne Wahl und Alternative zu sein, übergenug von der Vorstellung eines einzelnen Mannes oder einer Frau (mit oder ohne Gitarre) gegen die ganze Welt. Dadurch, daß er das Gospel im Soul verweltlicht und dadurch das Konzept der jenseitigen Erlösung in die reale Welt übertragen hatte, sprach Ray Charles eine potente politische Methaper aus: die des erreichbaren Himmels auf Erden. Und indem er den romantischen Individualismus des Blues durch den Gemeinschaftsgeist des Gospel ersetzte, sprach seine Musik Bände über die Hebelwirkung, die durch gemeinsame Aktionen des schwarzen Amerika entstehen konnte. Soulmusik war so etwas wie das Ende des „Teile und Herrsche“, sie bedeutete — und bedeutet — den Zusammenschluß des schwarzen Amerika...
In den Achtzigern wurde es Mode bei den Soulpuristen (im wesentlichen alles Weiße), jede Soulplatte, auf der sich auch nur die Andeutung eines Gitarrensolos befand, als einen Verrat an die miesen alten Rockisten (d.h. an die weißen Rivalen um das Recht, der schwarzen Musik den Weg ihrer kulturellen Entwicklung vorzsuchreiben) zu betrachten. An dieser kritischen Position festzuhalten, leugnet nicht die Bedeutung von Jimi Hendrix als Individuum, sondern auch weite Teile der afro-amerikanischen Kulturgeschichte, die in seiner Musik verkörpert ist. Jimi Hendrix' Musik hätte ohne die Soulmusik gar nicht existieren können — und die moderne Soulmusik wäre undenkbar ohne die seine...
Auf den Rücken gelegt
Und er nahm nochmals und nochmals und nochmals Platten auf: Er wollte Ende des Jahres ein Doppelalbum herausbringen mit dem Arbeitstitel First Rays of the New Rising Sun, eine Platte, die sowohl die Summe der Arbeit war, die er in den Sechzigern geleistet hatte, als auch den Weg wies zu der neuen Musik, die er spielen wollte, sobald er sein Leben und seine Finanzen unter Kontrolle hatte. Zu diesem Zweck hatte er sich an Alan Douglas und an Chas Chandler gewandt, daß sie seine Karriere in die Hand nehmen sollten, obwohl es ein Rätsel ist, wie er deren so sehr veschiedene Auffassung von Musik und Geschäft unter einen Hut bringen wollte. Der ehrgeizigste Plan, den Douglas und er ausgebrütet hatten, war die Zusammenarbeit mit dem großen Jazzarrangeur Gil Evans, bestens bekannt für seine Arbeit mit Miles Davis. Es wurde vereinbart, daß Hendrix und das Evans- Orchester mit den Proben für ein Album und ein Konzert mit Evans' Arrangements von „Hendrix-Kompositionen“ beginnen sollten — mit Hendrix als Solisten — sobald der Gitarrist von seiner anstehenden Europatournee zurück sein würde...
Irgendwann am Abend des 17.September beschloß er, sich mit ein paar von Monika Dannemanns Schlaftabletten hinzuhauen: Er würde dann den ganzen 18. durchschlafen und London am Wochenende verlassen, nach New York zurückgehen und die Arbeit an seinem Album beenden, sich ein paar seiner Demobänder greifen und sich dann wieder mit Chas Chandler zusammensetzen.
Dazu kam es nicht mehr. Früh am nächsten Morgen bemerkte Monika Dannemann, daß Hendrix nachts erbrochen hatte, aber da sein Atem scheinbar ruhig und er normal zu schlafen schien, lief sie mal eben zum Laden an der Ecke, um Zigaretten zu holen. Nach ihrer Rückkehr konnte sie ihn nicht mehr aufwecken. In ihrer Panik rief sie Eric Burdon an, der sie anschrie, sie solle den Krankenwagen holen. Die Ambulanz kam auch gleich, aber irgendwie hatte man Hendrix beim Transport auf den Rücken gelegt, und da sein ganzer Körper durch die Tabletten vollständig gelähmt war, konnte er das Erbrochene nicht ausspucken oder -husten und ist daran erstickt. Die Leute von der Ambulanz hatten Monika Dannemann gesagt, Hendrix käme schon wieder in Ordnung, aber ihre Versicherungen erwiesen sich als völlig unbegründet. Am Morgen des 18.September 1970 starb Jimi Hendrix, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, in der Stadt, in die er vor etwas über vier Jahren mit so viel Hoffnung und Optimismus gekommen war. Er war siebenundzwanzig Jahre alt.
Aus dem Englischen von
Lore Boas.
Charles Shaar Murray war in den siebziger Jahren Redakteur beim 'New Musical Express‘ und arbeitet heute als freier Autor, unter anderem für 'Vogue‘, 'The Face‘, 'Times Literary Supplement‘ und 'The Observer‘. Mitautor eines Buchs über David Bowie. Seine Hendrix-Monographie „Crosstown Traffic“ (Faber & Faber, London 1989) erscheint Anfang Oktober in der deutschen Übersetzung. Titel: „Purple Haze — Jimi Hendrix. Die Legende der Rockmusik“. Hannibal-Verlag, 288 Seiten, Fotos, 38 DM. Wir danken dem Hannibal-Verlag für die Abdruckgenehmigung.
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