NS-Entsorgungsstätte Nürnberg?

Ein umstrittenes Konzept der neuen Nürnberger Kulturreferentin Karla Fohrbeck (parteilos) zur Gestaltung des Reichsparteitagsgeländes  ■ Von Bernd Siegler

Während in der Präambel des Einigungsvertrags die Zeit des Nationalsozialismus nicht einmal Erwähnung findet, sorgt in Nürnberg ein Konzept für Furore, das aus einem zentralen Ort der NS-Geschichte eine nationale Gedenkstätte machen will. Es geht um die Gestaltung des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg. Dort, wo von 1933 bis 1938 Millionen von Menschen begeistert dem „Führer“ Adolf Hitler huldigten, sollen in Zukunft Regierungsoberhäupter einen Kranz „der freiwilligen Versöhnung“ niederlegen können. Wo heute Jogger schweißgebadet die „Worte aus Stein“ (Hitler) umrunden und einmal jährlich das Autorennen „200 Meilen von Nürnberg“ stattfindet, soll „Deutschland der Welt ein Zeichen“ geben, ein „anderes Menschenbild präsentieren“.

Nürnbergs neue Kulturreferentin Karla Fohrbeck (parteilos) schmiedet große Pläne für die Umgestaltung des Reichsparteitagsgeländes der NSDAP in einen „europäischen Friedensort“. Die 47jährige, erst seit Mai im rot-grünen Rathaus der Stadt, will aus dem gigantischen Aufmarschplatz der Nazis einen „nationalen Ort der Besinnung“ machen. Resultat der Aktion soll ein „erneuertes Nationalbewußtsein“ sein. „Eine große Wunde soll langsam heilen dürfen“, Nürnberg soll eine „Wächterstadt“ im internationalen Rahmen werden.

Fohrbecks Konzept ist umstritten. Kritiker werfen Karla Fohrbeck religiöse Phraseologie, Weltfremdheit und eine postmoderne Inszenierungskultur vor. Insbesondere bei den Parteien ist die anfängliche Begeisterung der Angst gewichen, Nürnbergs Image in der Welt könnte in Zukunft mehr unter Forbecks Konzept leiden als unter der Vergangenheit. Am vergangenen Freitag haben in der Kulturausschußsitzung des Nürnberger Stadtrats SPD und Grüne bereits signalisiert, daß sie mit einer Mehrheit für ihre Vorstellungen nicht rechnen kann.

„Tempelstadt der Bewegung“

Seit Kriegsende müht sich die Stadt der Reichsparteitage mit dem gewaltigen Erbe aus Stein ab, das ihr die Nationalsozialisten hinterlassen haben. Schon 1927 war die Wahl auf Nürnberg als Versammlungsort von NS-Aufmärschen und -Aktivitäten gefallen. Die historisch-romantische Kulisse und die Reichstradition der Stadt ließen sich hervorragend für die Selbstdarstellung der NSDAP nutzen. Ende 1934 schließlich hatte Hitlers Lieblingsarchitekt, Albert Speer, einen Gesamtplan für die „Tempelstadt der Bewegung“ vorgelegt. Die größte Halle der Welt, die größte Manöver-Arena und das größte Stadion (mit 405.000 Plätzen) sollten in Nürnberg entstehen. Die Monumentalität der Bauten sollte die emotionale Wirkung der inszenierten Massenkundgebungen verstärken. Mit Kriegsbeginn wurden die Bauarbeiten in dem Gelände im Südosten Nürnbergs dann eingestellt, lediglich an der Kongreßhalle wurde bis 1942 fieberhaft weitergebaut.

Nach dem Krieg hätten die Stadtväter am liebsten alles weggesprengt, doch die Beseitigung der Bauten, die ja 1.000 Jahre überdauern sollten und deren Ausstrahlungskraft noch als Ruinen bereits beim Bau miteinkalkuliert worden war, erwies sich als nicht finanzierbar. Als dann auch noch die bayerische Denkmalschutzbehörde jene NS-Relikte als schutzwürdig einstufte, war dieser Weg der „Vergangenheitsbewältigung“ endgültig verbaut.

Seither ist immer wieder der Versuch unternommen worden, die Kultstätten mit Ewigkeitswert in den Alltag zu integrieren. Auf der mit Granitplatten gepflasterten Straße dürfen heute Autos parken, auf der Zeppelintribüne bejubeln Tausende von Zuschauern Formel-2-Piloten und Rock-Stars, und die US-Army nutzt einen Teil des Zeppelinfeldes als Sportgelände.

Für die Verwendung des Kongreßhallentorsos von 223 Metern Breite und 290 Metern Länge existierten seit Kriegsende große Pläne. Sie reichten vom Großstadion für den 1. FC Nürnberg bis hin zu einem überdimensionalen Konsumtempel mit integriertem Altenheim, Hotel und Schwimmbad. Derzeit bringen dort 45 Mietparteien der Stadt jährlich Einahmen in Höhe von einer Million Mark. Nürnbergs Kulturreferent bis Mai dieses Jahres, Hermann Glaser (SPD), erfaßte beim Passieren des Torsos „jeweils eine tiefe Befriedigung: eine unmenschliche Architektur dient heute als Warenlager und Depot, als riesiger Schuppen für Stapelware“.

Allerdings vermißte er die Auseiandersetzung mit der Geschichte, die in Nürnberg immer wieder gerne auf die lange Bank geschoben wurde. Erst unter dem Druck der Gedenkjahre 1983 (50 Jahre Machtergreifung), 1985 (50 Jahre Nürnberger Gesetze und 40 Jahre Nürnberger Prozesse) sowie 1988 (50 Jahre Reichspogromnacht) wurden Gelder locker gemacht. Sie reichten gerademal für eine Gedenkausstellung unter der Zeppelintribüne. Die ersten Informationstafeln auf dem Gelände, das mehr als 100.000 Besucher im Jahr anlockt, wurden 1989 installiert.

Karla Fohrbeck will jetzt Schluß machen mit dem Versteckspiel vor der Vergangenheit. Jeder, der nach Nürnberg komme, identifiziere die Stadt automatisch mit dem Dritten Reich, „ob wir das hier wollen oder nicht“. Gerade angesichts der bevorstehenden Vereinigung von DDR und BRD komme es darauf an, daß in Deutschland ein „Zeichen der Versöhnung“ gesetzt werde. Nicht zuletzt an Nürnberg werde gemessen, ob man „sich vor einer Wiederholung fürchten“ müsse.

Mit einem Seitenhieb auf ihren Vorgänger Glaser, der über 25 Jahre im Amt war, beklagt sich die langjährige Leiterin des Bonner Zentrums für Kulturforschung, daß in Nürnberg zwar alle von Aufklärung redeten, aber keiner wisse, was darunter zu verstehen sei. Fohrbeck will jetzt ein „europäisches Gesamtkunstwerk, das Geist, Seele, Körper und Kopf umfaßt“, schaffen. Als Frau stehe sie für eine solche ganzheitliche Betrachtung.

Als ersten Schritt der Umgestaltung sollen an der Mauer oberhalb der Führerkanzel, auf der heute noch gestandene Familienväter fürs Fotoalbum mit dem Hitlergruß posieren, hinter Panzerglas Tafeln mit dem Titel „Wege zum Frieden“ installiert werden. Unter dem Motto „Einsicht“, „Umkehr“ oder „Vergebung“ stehen Texte aus dem Alten und Neuen Testament sowie Zitate aus der „reichen Geisteskultur“. Sie sollen den „geistigen und im Dritten Reich zerstörten Wurzeln des Abendlands“ entsprechen. Die letzte Tafel mit dem Titel „Entscheidung!“ trägt einen Psalm („Die ihr den Herrn liebet, hasset das Arge“), einen Teil des Vater-Unser („sondern erlöse uns von dem Bösen“) sowie die Fohrbecksche Konkretisierung des Bösen („Faschismus, Gewalt, Mord, Haß, Rache, Lieblosigkeit, Antisemitismus, Rassismus, Drogen, Okkultismus, Massenwahn, Besitzgier, üble Nachrede, Krieg“).

Als nächsten Schritt plant die Kulturreferentin die Umgestaltung des Geländes in einen „Friedenshain“ und eine „Friedensallee“. Kunst und Leben sollen dabei gegen Diktatur und Tod stehen, Bäume gegen Stein, Individualität und Vielfalt gegen Gleichschaltung und Monotonie. An der Begrenzung der „Friedensallee“ werden Gedenksteine für die Opfer der NS-Herrschaft aufgestellt, dahinter gläserne Bodenplatten mit Collagen zur Erinnerung an zerstörtes Leben. „Objekte neuen Lebens, der Neuschöpfung und des Trotzdem“, geschaffen von Künstlern aller betroffenen Nationalitäten, sollen dahinter ihren Platz finden. Auf der Führerkanzel soll der „Bruder Eichmann“ des österreichischen Bildhauers Alfred Hrdlicka stehen, unterhalb der Kanzel ein Gedenkstein mit der Inschrift „Liebe, Gnade, Barmherzigkeit — den Opfern des Faschismus“. Damit, so Karla Fohrbeck, wäre das Gelände ein „Ort für menschliche und politische Kultur, für Staats- und individuelle Versöhnungsakte, für Gottesdiente und für Feiern des Gedenkens und der Besinnung“.

Die Begeisterung in Nürnberg hält sich in Grenzen. Einhellig begrüßt wurde nur, daß Karla Fohrbeck die Gestaltung des Reichsparteitagsgelände zu ihrem zentralen Anliegen gemacht hat. Wolfgang Weiß, Leiter des Pädagogischen Instituts (PI), unter dessen Federführung die Ausstellung „Faszination und Gewalt“ steht, ist dankbar, daß angesichts der vielfältigen Verdrängungsversuche das Thema überhaupt in der Diskussion bleibt. Auch die SPD begrüßt das, die CSU findet es „klug“, den Komplex anzugehen, die Grünen sprechen von einem „sehr guten Diskussionsbeitrag“ und die FDP von einem „sehr guten Anstoß“.

Nürnberg „als Wächterstadt überfordert“

SPD-Oberbürgermeister Schönlein enthielt sich bislang jeglichen Kommentars. Die Einsilbigkeit der Sozialdemokraten hängt jedoch eher mit internen Querelen im Kulturreferat zusammen als mit dem vorliegenden Konzept. Nur mit Bauchschmerzen hatte sich die SPD überhaupt auf die Ernennung der parteilosen Kulturwissenschaftlerin eingelassen, um dann noch mitansehen zu müssen, wie diese die seit Jahrzehnten verfilzte SPD-Verwaltung in nur drei Monaten kräftig durcheinanderwirbelt.

Insbesondere der religiöse Ansatz der Kulturreferntin und ihr Ziel, Nürnberg exemplarisch zur Wächterstadt zu machen, steht mittlerweile im Mittelpunkt der Kritik. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Jürgen Fischer ist sich mit seinem Fraktionskollegen und Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Arno Hamburger darin einig, daß Nürnberg als Wächterstadt überfordert sei. Die Stadt dürfe nicht zum „Sündenbock des Dritten Reiches“ gemacht werden.

Schärfer formuliert es der Politikwissenschaftler Eckart Dietzfelbinger, Mitbegründer einer Bürgerinitiative, die 1987 ein Modell des „verfallenden Mahnmals“ mit der symbolischen Aussperrung des Faschismus mittels Stacheldraht konzipiert hat. „Nürnberg wird dann zur deutschen Entsorgungsanstalt.“ Dietzfelbinger stellt prinzipiell in Frage, ob man aus einem Ort, an dem sich einst die Täter feiern ließen, überhaupt eine nationale Gedenkstätte machen könne. Er vermißt in dem Konzept der Kulturreferentin aktuelle Bezüge und vor allem politische Ursachenforschung.

Erika Sanden, Architektin und ebenfalls Mitbegründerin der BI, findet das Fohrbecksche Konzept „total ahistorisch, gewaltsam feierlich museal und phrasenhaft“. Eine derartige „abschließende Ästhetisierung von Leiden und Verbrechen“ sei in einer Zeit des zunehmenden Rassismus und Nationalismus nicht angebracht. Zudem könne man die Waffenschmiede Deutschlands (Nürnberg ist zum Beispiel Sitz des Rüstungsunternehmens Diehl) nicht einfach deklamatorisch zur Wächterstadt des Friedens erheben. Es sei „sehr peinlich“, wenn Fohrbeck das Dritte Reich und den 2.Weltkrieg als fundamentalen „Glaubenskrieg“ bezeichnet.

In der Tat ist die Kulturreferentin der Auffassung, daß man „die Juden wegen ihres Gottes umgebracht“ habe, das deutsche Volk habe sich zum „Weltgott“ gemacht und daraus sei die Irrationalität des Holocaust entstanden. Das „selbsterwählte Herrenvolk“ der Deutschen habe „gegen das auserwählte Volk Israels“ gekämpft, so Fohrbeck. Dietzfelbinger bezeichnet diese Einschätzung als „Relativierung eines Vernichtungs- und Eroberungskriegs“, Murawski schlicht als „unerträglich“. Während PI-Chef Weiß lediglich bezweifelt, daß die Bibelsprüche die Leute erreichen, kündigen die Grünen und inzwischen auch die Sozialdemokraten Widerstand gegen die religiöse Betonung an. Dieter Rossmeissl (SPD) wirft der parteilosen Referentin „Antirationalismus“ vor. Sie habe sich der „Verführung durch neue Mythen und Emotionen“ nicht entziehen können und laufe Gefahr, der Gigantomanie des Geländes zu unterliegen. Klaus-Peter Murawski von den Grünen hält die Bibelzitate für eine „unglückliche Lösung“ und erinnert an die Rolle der Kirche im Dritten Reich und die Rolle des Christentums bei der Judenverfolgung. Sein Parteikollege Wolff warnt davor, das Kapital der Geschichte mit einer Gedenkstätte für abgeschlossen zu betrachten und fordert einen Ideenwettbewerb zur Gestaltung des Geländes.

Karla Fohrbeck flüchtet sich angesichts der breiten Kritik in die Unverbindlichkeit und nennt dies „Offenheit für alle Ideen“. Das Gelände sei groß genug, alles zu verwirklichen. Alle könnten sich dort wiederfinden, nur müsse jeder seine eigenen Intoleranzen überwinden.

Konkreter Widerstand gegen das Konzept ist bislang nur vom Motorsport Club Nürnberg, dem Ausrichter des Autorennens, erfolgt. Die Lobby bis hin zum ADAC ist bereits mobilisiert, auch Oberbürgermeister Schönlein hat es für nötig empfunden, eine mittelfristige Bestandsgarantie für das Rennen abzugeben.