: Der Sturm, schwerelos
Peter Brooks Inszenierung von Shakespeares „Sturm“ hatte beim Zürcher Theaterspektakel in den alten Industriehallen Premiere ■ Von Gerhard Mack
Ein Mann in weißem Gewand betritt die Spielfläche. Auf dem Kopf trägt er ein kunstvoll verziertes Bambusrohr. Er bleibt stehen, nimmt es ab und neigt es zu den Enden; Körner rieseln. So erzeugt Ariel den Strum, Propero will damit die Usurpatoren seiner Macht ans Land seines Inselexils und zur Rechenschaft zwingen. Gedränge auf der Bühne. Matrosen und Hofleute schwanken, fallen und halten sich an Bambusstangen fest. Das wirre Auf und Ab der Rohre, die sich reckenden und anklammernden Hände sind zugleich das Tosen des Meeres, das kippende Schiff, zerreißende Segel. Aus dem Nichts entsteht ein Bild von Menschen in höchster Not, das so schnell verschwindet, wie es sich geformt hat. Zurück bleibt Gonzalo, der weise Ratgeber des Königs von Neapel. Vor ihm heben Ariel und ein hilfreicher Geist langsam eine Bambusstange: ein Mann sinkt unter die Wasseroberfläche — und beschwert sich von dort, daß er gerne eines trockenen Todes gestorben wäre. Todesangst geht über in Komik — ein Wechsel des Bewegungsrhythmus genügt.
Das gelbsandige Rechteck mit dem Felsbrocken, das Chloé Obolensky in eine Fläche roter Erde zwischen die weiß ausgeschlagenen Wände der alten Reithalle eingelassen hat, ist die Insel des Zauberers Prospero und die Bühne des Theatermagiers Peter Brook. Hier wartet der vertriebene Herzog von Mailand mit seiner Tochter Miranda seit zwölf Jahren auf die Chance zur Rückkehr, hier herrscht er mit seinem Bücherwissen über den wilden Caliban und die Naturgeister Ariels. Mit ihrer Hilfe gelingt Prospero das Überleben abseits jeder Gesellschaft. Ihre Schwerelosigkeit wählt sich Peter Brook zum Grundprinzip seiner Inszenierung.
„Wir sind solcher Stoff, aus dem Träume gemacht sind“, sagt Prospero, und wie im Traum läßt Brook die Bilder und Szenen wechseln. Wo andere ganze Maschinerien in Gang setzen und nur ein Knirschen der Scharniere bewirken, genügen seinen Schauspielern wenige Gesten und Requisiten. Ein Seidentuch auf dem Boden ist Prosperos Zelle. Als Gonzalo (Yoshi Oida) das zweite Verschwörungsgespräch zwischen Antonio und Sebastian belauscht, reicht ein Taschentuch aus, das er sich vor den Kopf hält. Und wenn er von seinem Utopia schwärmt, wird er zum Kind, das in einem Kreis aus Sandtürmen sitzt und mit jedem Übel, das er abschaffen will, fröhlich einen Turm zerpatscht. Besser läßt sich die kräftige Naivität und der Glaube an eine Zukunft befreiter Menschen kaum in ein Bild bringen, das noch dazu von der Skepsis grundiert ist, daß solcher Kindertraum wohl nie erreicht werden kann.
Wie die Verdichtung von Wünschen zu Bildern, gehört zum Traum auch das zeichenhafte Erzählen. In Brooks Sturm gibt es eine Sprache der Hände und Gebärden, die die Verschwörung Antonios mit Neapel, die Verlassenheit Prosperos auf dem weiten Meer, seinen Schmerz und seine Empörung ebenso präzise zeichnet wie die plötzliche Grazie des bereuenden Caliban am Ende.
Für Prosperos Zaubermacht werden die Bambusstangen zum universalen Erzählmittel: Sie umgrenzen seinen Wirkungsbereich, zeigen den Strum und sind die Kampfstöcke, mit denen die Geister die Hofleute entwaffnen; von ihnen flattern Schmetterlinge und hängen den Umherirrenden Trauben vor die Münder; sie trennen Miranda (Romane Bohringer) und Ferdinand (Ken Higelin) voneinander, und sie bilden einen Weihedom, in dem die Liebenden sich einander bekennen.
Die Kostüme Chloé Obolenskys sprechen von der Freiheit der Figuren. Das weiße Leinenzeug der Inselbewohner kontrastiert mit dem dunklen schweren Tuch der gestrandeten Hofgesellschaft und dem erdigen Sackstoff Calibans. Diesem und dem Luftgeist Ariel erlauben weite Kleider große Sprünge. Mit ihren nackten Waden stehen sie außerhalb der Konventionen einer die Beine eng schnürenden Gesellschaft. Prospero und Miranda zwingen ihre langen Gewänder zu feierlichem Schreiten. Seine Kleider erzählen die ganze Geschichte seiner Rückkehr zum Menschsein aus dem Exil des Wissens und der Macht: Die majestätische Erscheinung vom Beginn legt nach und nach den Zaubermantel, das Herzogskleid und den weißen Umhang des Geistmenschen ab, um am Ende im weißen Unterzeug dazustehen, als machtloser Mensch, der seine Freiheit dem Publikum anheimstellt. In die monochrome Welt der Irdischen dringt für einen Augenblick der Farbstrahl göttlicher Freiheit und himmlischen Segens: Iris, Ceres und Juno kommen, um dem jungen Paar Glück zu wünschen. Ihre Gewänder in strahlendem Rot, Grün, Orange, Gelb und Blau künden von einer Utopie der Fülle, wie sie Gonzalo zuvor herbeigesehnt hat.
Freiheit ist denn auch bei Peter Brook das große Thema von Shakespeares Abschiedswerk. Befreien wollen sich Antonio und Sebastian durch die Ermordung Alfonsos, frei von ihrer mißlichen Lage wähnen sich im Rausch Trinculo und Stephano, Freiheit fordern die Inselgeister, allen voran Ariel und Caliban, nach Befreiung strebt Prospero. All das ist zu sehen, wenn beispielsweise Prospero als alter Mann die Insignien seiner magischen Kräfte — Steine, Buch und Stab — Ariel übergibt und wenn der Luftgeist sich hinter ihn setzt und ihn zur Vergebung mahnt; frei werden kann nur der, der anderen Freiheit gewährt. Doch dieser ethische Imperativ und die melancholische Skepsis, mit der Prospero ihm folgt, sind nicht das eigentlich Überzeugende an Brooks Inszenierung. Sie fasziniert vielmehr durch die traumwandlerische Leichtigkeit der Bilder und Bewegungen, die die Schauspieler dem Verlangen nach Freiheit abgewinnen.
Zu einem Fest für die Augen wird dieser Sturm zuallererst durch die körperhafte Präsenz der Akteure. Ist der Prospero Sotigui Kouyates bis zu seiner Lösung am Ende vor allem der Zeremonienmeister des Spiels, dessen feierliche Statik seinem Mangel an Menschsein entspricht, sprühen Ariel und Caliban vor Temperament. Ariel erzählt mit der Begeisterung eines Jungen, der seine gelungenen Streiche nachspielt, vom Sturm auf dem Schiff, er tanzt, wenn er gelobt wird, klettert vor Unwillen in die Höhe, als er arbeiten soll, ist noch in der Angst frech und kringelt sich, um Verzeihung bittend, verschmitzt auf Prosperos Schoß. Er ist immer der verspielte, witzige Diener, der vor seinem Herrn weiß, was dieser will, der mit der Lust an der eigenen Trägheit schäkert, sich über Arbeit empört und dennoch gerne hilft.
Der Caliban David Bennents ist inmitten seiner Ausbrüche anrührend und komisch. Er stürmt in einem alten Karton herein, wirbelt damit über den Sand, benützt ihn als Schild gegen Prospero, als Versteck, als Haus und als Opferstätte. Flink entwendet er seinem Herrn den Krummstock, läßt ihn durch Finger wandern, schwingt sich an einem Seil durch die Luft und krümmt sich dennoch bei den Verwünschungen wie unter Schlägen.
Peter Brooks Sturm ist aus der Atmosphäre des Mahabharata entstanden. (Auch diesmal besorgte Jean- Claude Carrière die französische Textfassung.) Ihm gegenüber mutet der Sturm wie ein heiteres Nachspiel an, das die erarbeiteten Mittel an dem Stück der europäischen Theaterliteratur erprobt, das wie kein anderes die fernöstliche Transparenz der Phantasie auf der Bühne braucht. Regisseur und Schauspieler befinden sich dabei auf der Höhe ihrer Meisterschaft, und dennoch verhindert eine Hemmung das kindliche Staunen des Zuschauers über nie gesehene und vor Sinnfälligkeit explodierende Bilder. Vielleicht geraten ihm, immer wenn es ansetzt, die Monologe und die Tradition des bekannten Stückes in die Quere. Dessen ungeachtet spült der Sturm, den Peter Brook und sein buntes Ensemble entfachen, Wesen auf die Bühne, die so fremd und so vertraut sind, wie schon lange keine mehr.
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