Das Erfurter Hütchenspiel

■ Zukünftige Landeshauptstädter Thüringens lernen spielend Gesetze der „freien Marktwirtschaft“

Erfurt (taz) — Auf dem Erfurter „Anger“ werden die von der realsozialistischen Planwirtschaft gegängelten BürgerInnen der noch existierenden DDR von system(be)frei(t)en Jugoslawen mit den Grundsätzen der freien Marktwirtschaft konfrontiert: Hausfrauen und Rentner, Angestellte und LPG-Bäuerchen aus dem Thüringer Becken lernen spielend, daß Risiko- und Investitionsbereitschaft der sich marktwirtschaftlich engagierenden Individuen zu den Eckpfeilern des neuen Systems zählen. Und die „Jugos“ zahlen erwirtschaftete Gewinne bar aus, weil man die neuen MitspielerInnen auf dem Markt der (Un-)Möglichkeiten nicht mit komplizierten Gewinn- und Verlustrechnungen, Börsennotierungen oder gar mittelfristigen Investitionsplänen überfordern will.

Wer einen „Hunni“ investiert, der kann zwei einsacken, wenn er die Vorgänge auf dem Markt genau beobachtet und dann eine schnelle Entscheidung trifft. Wer falsch entscheidet, ist sein investiertes Geld los — wie im richtigen Wirtschaftsleben. Und wie im Westen gehören die Produktionsmittel den am Markt etablierten Unternehmern. Einen Stuhl, drei leere Schachteln und einen kleinen Gummiball schleppen die hilfsbereiten Männer vom Balkan mit sich herum. Natürlich haben sie auch einen Subunternehmer beschäftigt, der den ahnungslosen „Zonis“ zeigt, wie man sich auf dem Parkett der freien Marktwirtschaft bewegt.

Wo immer das freie Unternehmertum auftaucht, pulken sich die lernwilligen BürgerInnen — und die „Hunnis“ wandern in prall gefüllte Taschen der Kugelartisten aus Zagreb und Belgrad. Daß der getarnte Subunternehmer immer das falsche Schächtelchen hochhebt, und deshalb zahlen muß, läßt die marktwirtschaftlich Interessierten frohlocken. Die haben längst kapiert, wie der Hase läuft, werfen ihren „Hunni“ auf den Tisch — und decken dann selbst die falsche Schachtel auf: So gemein kann „freie Marktwirtschaft“ sein.

Die Aufklärungskampagne sabbotierten am vergangenen Dienstag die Aktenverbrenner von der Volkspolizei. Verhaftet im alten Denken, scheuchten sie die freien Unternehmer vom „Anger“. Kaum außer Sichtweite, rollten die Kügelchen erneut über die Hocker — und die ErfurterInnen zückten wieder die Geldbeutel. Hartnäckigkeit ist auch eine marktwirtschaftliche Tugend. Klaus-Peter Klingelschmitt