: Das Ende des Frühlings
Eine Bestandsaufnahme der chinesischen Gegenwartsliteratur ■ Von Clemens Murath
In den Jahren von 1978 bis 1989 kam es in China zu einer für dortige Verhältnisse beispiellosen literarischen Entwicklung. Dieser Zeitraum, eingezwängt zwischen Kulturrevolution und neuerlicher Eiszeit, markiert eine abgeschlossene Epoche, in welcher die chinesische Gegenwartsliteratur zum ersten Mal auch jenseits der eigenen Grenzen Anerkennung finden konnte. Es fand ein reger Austausch von Schriftsteller-Delegationen und Gastdozenten zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik China statt. Verlage engagierten sich in größerem Umfang, wobei dieses Engagement allerdings aufgrund der schwierigen Absetzbarkeit chinesischer Bücher rasch an seine Grenzen stieß. Einen Höhepunkt stellte das „Horizonte“- Festival 1985 in Berlin dar, als eine Reihe hochkarätiger Intellektueller, wie etwa der spätere Kultusminister Wang Meng, aus China anreisten.
Mittlerweile hat sich all dies aus bekannten Gründen zerschlagen. Die ernstzunehmenden Autoren sind von Arbeitsverbot oder Lagerhaft, wenn nicht Schlimmerem, bedroht. Viele von ihnen haben es ohnehin vorgezogen, ihren Auslandsaufenthalt auf unbestimmte Zeit auszudehnen. Die Niveaulosigkeit der chinesischen Kulturszene und die Geringschätzung, die den Intellektuellen bereits gegen Ende der achtziger Jahre entgegenschlug, hat allerdings schon vor dem 4.Juli 1989 zur Abwanderung namhafter Schriftsteller geführt. Der Dramatiker Gao Xingjian lebt seit einiger Zeit in Paris. A Cheng, Jiang He und Liu Binyan, der sich durch seine Reportageliteratur einen Namen gemacht hat, leben in den USA. Andere Autoren hat es nach Neuseeland und Australien verschlagen.
Es wird wohl eine über die Länder der zivilisierten Welt zerstreute Exilliteratur geben — zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte. Und von dort her wird, wenn überhaupt, mit einer Belebung der chinesischen Gegenwartsliteratur zu rechnen sein. Die zur Zeit im Mutterland publizierten Elaborate fallen sämtlich auf das Niveau primitivster Propaganda zurück. Von der Untergrundliteratur, die immerhin auf eine zwanzigjährige Tradition in China zurückblicken kann, ist aufgrund des extrem hohen Verbreitungsrisikos und der Reproduktionsschwierigkeiten (es gibt in China nicht an jeder Ecke einen Copy-Shop) kein entscheidender Impuls zu erwarten.
Ein hoffnungsvoller Aufbruch
Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Nach Maos Tod 1976 und der Verhaftung der „Viererbande“ kam es zu einem Machtkampf zwischen den konservativen Kräften um Hua Guofeng und den Reformern um Deng Xiaoping, aus dem letzterer 1979 siegreich hervorging. Dieser Dissens in der Führungsspitze ließ der Literatur einen relativ weiten Spielraum. Deng war der kritischen Literatur sowie den Wandzeitungen an der „Demokratischen Mauer“ günstig gesonnen, verschafften sie ihm doch Gratispropaganda für seine politische Linie.
In diesem politischen Klima richtete sich die sogenannte kritische „Trümmer-“ beziehungsweise „Wunden- und Narbenliteratur“ ein. Sie thematisierte die psychischen Deformationen, die die Kulturrevolution in den Menschen angerichtet hatte. In dem kurzen Zeitraum von November 1977 bis Herbst 1979 endstand eine Fülle von Erzählungen meist sehr junger Autoren.
Die Kulturrevolution hat im Bewußtsein der Chinesen Verwüstungen hinterlassen, die durchaus dem deutschen Trauma nach 1945 vergleichbar sind. Mao hatte ein zehnjähriges Inferno entfacht, in dessen Verlauf sämtliche Kontakte zum Ausland, einschließlich der diplomatischen, ausgesetzt waren, die Bildungsstätten schließen mußten, die Intellektuellen als „stinkende Nr.9“ beschimpft wurden und schließlich jeder gegen jeden kämpfte. Am Ende waren Millionen von Toten zu beklagen.
Im Gegensatz zu den euphorischen Berichten Edgar Snows („Mr. Wang ist wohlgenährt, gesund, angemessen bekleidet und voll beschäftigt mit der Arbeit, Mao-Unterricht und technischen Fortbildungskursen während seiner Sechstagewoche“) zeichnen die jungen Schriftsteller ein ganz anderes Bild der Kulturrevolution. Es ist die Rede von Willkür, Denunziation, Erniedrigung und Totschlag. Der strahlende Held des Sozialismus verkommt zum marodierenden Banditen. Allein der Sturz der „Viererbande“ vermochte das Allerschlimmste zu vermeiden.
In der Erzählung Die Wunde (1978) von dem damals gerade vierundzwanzigjährigen Studenten Lu Xinhua geht es um ein junges Mädchen, das seine angeblich zur „Verräterin“ gewordene Mutter verläßt und in den Norden geht. Doch trägt sie das Stigma ihrer Vergangenheit, den „Verrat“ der Mutter. Als die Tochter die Unsinnigkeit ihres Verhaltens erkennt, ist ihre Mutter tot.
In den meisten Erzählungen wird der Verlust tradierter sozialer Beziehungen und insbesondere die Zerstörung der Familien als das Grundübel entlarvt. Verführt von der allmächtigen „Viererbande“, die ganz im Sinne Deng Xiaopings und der Seinigen zum alleinigen Sündenbock gestempelt wurde, probt die Jugend den Aufstand gegen das Alter und die bewährten Lebensmaximen wie Weisheit, Bildung und Demut. Die Folgen liegen auf der Hand: Chaos und menschliche Verrohung. Diese Thematik wird vor allem in der Erzählung Der Klassenlehrer (1977) von Liu Xinwu ausgearbeitet. Der Lehrer Zhang Junshi startet eine Aktion zur Schulung des Denkens, um die „von der Viererbande verführten Kinder zu retten“.
Doch bleibt das Plädoyer für einen neuen Humanismus in den Texten der „Wundenliteratur“ merkwürdig blaß. Über die schwarz-weiß malende Darstellung der Kulturrevolution, die völlige Ablehnung nach Jahren der unumschränkten Zustimmung, kommen diese Erzählungen selten hinaus. Die Bedeutung dieser Literatur liegt nicht in ihrer künstlerischen Qualität, sondern in ihrer Thematik, darin, daß überhaupt über die Verfehlungen der Partei geschrieben werden konnte.
Diese neue Offenheit wurde auf dem dritten Plenum des Zentralkomitees im Dezember 1978 offiziell abgesegnet. Neben tiefgreifenden Änderungen der Agrarpolitik, einer Reform des Kadarsystems und der Verkündung des Programms der „Vier Modernisierungen“ wurden auch politisch Verfolgte im großen Maßstab rehabilitiert. 1979 erschien der Erzählband Frische Blumen, die zum zweiten Mal blühen, der Erzählungen von siebzehn älteren Schriftstellern vereinigt, die seit der „Hundert-Blumen-Kampagne“ 1956/57 als Rechtsabweichler diskriminiert und mit Publikationsverbot belegt worden waren. Damals waren sie von der Partei zur Kritik aufgerufen worden. Als diese dann vernichtend ausfiel, wurden die Autoren kurzerhand für zwanzig Jahre in die Lager geschickt. Mao hatte dies damit begründet, daß die Kampagne allein dazu gedient habe, „den Tiger aus der Höhle zu locken“. Und sein Propagandascherge Zhou Yang erläuterte, ein Garten könne nur blühen, wenn die „Giftkräuter“ ausgemerzt würden.
Zu den „Giftkräutern“ zählten so wichtige Autoren wie Wang Meng, der von 1986 bis 1989 Kultusminister war, Gao Xiaosheng und Lu Wenfu. Letztere gehörten der literarischen Vereinigung der „Erkunder“ an, die im Zuge der Säuberungsaktionen nach der „Hundert-Blumen- Kampagne“ verboten wurde. Sie verweigerten sich der offiziösen Lobhudelei und versuchten, „ernsthaft das Leben zu ergründen“.
Mit dem gleichen Anspruch knüpften die maßgeblichen Autoren seit 1978 an das Programm der „Erkunder“ an. Die „Wundenliteratur“ konnte dem nicht entsprechen. Die grob schematische und einseitig wertende Darstellung der vergangenen zehn Jahre vermochte die drängende Frage nach dem „Warum“ der Kulturrevolution und nach der Verstrickung des einzelnen in den Labyrinthen eines totalitären Systems nicht zu klären. Sie wurde nicht einmal angeschnitten.
Die Verweigerung
Wurde die „Wundenliteratur“ noch politisch instrumentalisiert, indem sie durch die selektive Kritik an den Auswüchsen der Kulturrevolution der reformistischen Linie Deng Xiaopings entsprach, so stellte sich die literarische Entwicklung der folgenden Jahre außerhalb parteistaatlicher Verfügbarkeit und bekam prompt die Rechnung präsentiert.
Der erste Warnschuß fiel auf dem vierten Schriftsteller-Kongreß 1979, auf dem Deng seine richtungsweisende kulturpolitische Rede hielt. Er legte die Aufgabe der Literatur ausdrücklich auf die Propagierung der „Vier Modernisierungen“ fest. Daneben solle sie, zur Förderung der allgemeinen Moral, die heroischen Taten der alten Führungskader besingen.
Der Warnung folgte die Tat, nach etlichen Verboten, denen unter anderem die wohl wichtigste Zeitschrift avantgardistischer Literatur, 'Heute‘ ('Jintian‘), zum Opfer fiel, wurde 1983/84 die Kampagne gegen die „geistige Umweltverschmutzung“ lanciert. Es erübrigt sich, die Terminologie der Kampagne mit Inhalt zu füllen. Alles, was der Partei nicht genehm war, wurde unter dem Vorwand der Volksverhetzung oder Pornographie untersagt.
Gegen wen richtete sich der Zorn? Die „Wundenliteratur“ sah Licht am Ende des Tunnels; unnötig, anzumerken, daß dieses Licht sich auf Deng Xiaoping und die Seinen bezog. In den Werken der „obskuren Lyrik“ hat das Licht sich auf den flackernden Kerzenschein in der Seele des heimatlosen Individuums reduziert, eines Individuums, dem Hoffnung und Glaube gehörig ausgetrieben worden sind. Hier einige Verse aus dem Gedicht Die Stimme einer Generation der 1952 geborenen Shu Ting:
Nein, ich erhebe keinen Einspruch gegen mein Los.
Gegen die verpaßte Jugend,
Die deformierte Seele,
Gegen die zahllosen schlaflosen Nächte,
Die Erinnerungen aus Bitterkeit hinterließen.
Ich habe alle Begriffe umgestoßen;
Habe jedes Joch zerschlagen;
Im Herzen ist nur geblieben
Der augenscheinliche Zerfall...
Aber ich bin aufgestanden,
Stehe an weitem Horizont,
Niemand, nichts
Soll mich erneut umstoßen.
(W. Kubin [Hg.]: Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne. 1985, S.215)
Viele Gedichte der „obskuren Lyrik“ stellen für chinesische Verhältnisse etwas völlig Neues dar. Regeln der Grammatik, der Reimgesetze, der geregelten Zeitabfolge sowie logische Konsistenz werden häufig aufgebrochen zugunsten einer unmittelbaren Darstellung bewußter und unbewußter seelischer Vorgänge des Individuums. So wurden diese Gedichte während der Kampagne gegen „geistige Umweltverschmutzung“ auch als „nihilistisch“, „narzißtisch“, „unverständlich“ und „antichinesisch“ diffamiert. Sie stünden, so die Unterstellung, unter dem Einfluß von Sartre und Freud.
Wie ignorant die Begründungen für die Ablehnung der „obskuren Lyrik“ auch sein mögen, immerhin haben die Verantwortlichen klar erkannt, daß sich hier eine ganze Schriftstellergeneration (die Hofschreiber einmal ausgeklammert) dem staatlichen Zugriff verweigert. Nach den auf totale Gleichschaltung hinauslaufenden Kollektivierungsorgien der vergangenen Jahrzehnte stellte diese Art von Lyrik eine unerhörte Provokation dar.
Eine deutliche Abkehr vom Politischen markiert auch die sogenannte „Literatur der Suche nach den eigenen Wurzeln“ („Xungen wenxue“), deren wichtigste Werke Anfang bis Mitte der achtziger Jahre geschrieben wurden. Als programmatisch gelten die beiden Essays Meine Wurzel (Wo de gen) von Zheng Wanlong und Die Wurzel der Literatur (Wenxue de gen) von Han Shaogong.
Die Vertreter der Xungen wenxue lehnen die realistische Widerspiegelungstheorie, die die theoretische Diskussion Jahrzehnte lang beherrscht hat, als verkürzt und verfälschend ab. Ganz im Gegenteil werden unter Rückgriff auf die Mythologie der verschiedenen Volksgruppen des chinesischen Vielvölkerstaates „unrealistische“ Begebenheiten erzählt. Bezeichnend ist der Band Wundersame Geschichten an wundersamen Orten (Yixiang Yiwen), der Prosa von Zheng Wanlong enthält.
Der Duktus der Prosa A Chengs, Zheng Wanlongs, Han Shaogongs, Ma Jians und anderer Autoren der Xungen wenxue ist hart und ungeschliffen, von Dialekten durchsetzt und bisweilen sogar obszön. Als Beispiel mag das Skandalwerk der letzen Jahre, die Erzählung Der Belag auf deiner Zunge, dienen. In dieser Erzählung, die Ma Jain 1987 veröffentlichte, geht es um Reiseeindrücke aus Tibet und tibetanische Bräuche. Als solche stellt Ma Jian, aus welchen Gründen auch immer, fälschlicherweise diverse Sexualpraktiken und den Inzest dar. Dies brachte ihm den Vorwurf von Pornographie ([...] doch das Saugen an den Brüsten einer Frau war mir so zur Gewohnheit geworden, daß ich alle meine Finger kaputtbiß.“) und Volksbeleidigung sowie den Rausschmiß aus dem Schriftstellerverband ein. Vor dem Hintergrund der außergewöhnlich barbarischen Besetzung Tibets durch die Truppen der V.R.China allerdings nimmt sich der Vorwurf der „Verunglimpfung der tibetischen Minderheit“ von seiten der Regierung als besonders perfide aus.
Nach eigenem Bekunden sehen die Autoren der Xungen wenxue sich von W. Faulkner und G.G. Marques beeinflußt, was allerdings ein wenig hoch gegriffen erscheint. Immerhin hat Marques durch seinen Rückgriff auf die Mythologie Lateinamerikas dem südamerikanischen Roman zu einigem Ruhm verholfen. Es bleibt festzuhalten, daß die literarische Aufarbeitung lokaler Bräuche und alter Mythen das Ringen um einen dauerhaften kulturellen Fundus markieren, demgegenüber die politische Gegenwart allenfalls von sekundärer Bedeutung ist.
Neben der „obskuren Lyrik“ und der „Literatur der Suche nach den eigenen Wurzeln“ sah sich auch die Frauenliteratur obrigkeitsstaatlichen Anfeindungen ausgesetzt. Hier gelten Zhang Jie und Wang Anyi, deren Bücher zum Teil auch erhältlich sind, als führende Vertreterinnen. Es sind vor allem die Frauen, die unter den Mehrfachbelastungen von Familie, Kind, Arbeit und schon klassisch gewordener Diskriminierung zu leiden haben. Im urbanen Dschungel der Megastädte wie Shanghai oder Peking prallen soziale Konflikte aufeinander, die sich nur noch gewaltsam entladen können. So in dem Roman Gattenmord (auf deutsch erhältlich) von Wang Anyi, in dem die ausweglose Situation einer jungen, finanziell vom Gatten abhängigen Frau beschrieben wird, die sich letztlich durch Mord dem Druck zu entledigen sucht. In vielen Erzählungen Zhang Jies werden Probleme wie Arbeitslosigkeit, Chancenlosigkeit oder Kulturrevolutionsgeneration und Migration thematisiert. Diese sozial sehr engagierte Literatur benennt Mißstände, die offiziell gar nicht existieren.
Wie weit das stalinistisch- maoistische Roß auch in China schon abgehalftert ist, zeigt sich deutlich in dem Ausmaß, in dem die ernstzunehmenden Schriftsteller und Intellektuellen sich dem System verweigern. Trotz des unerfreulichen Pendelschlags der neuesten chinesischen Geschichte zwischen Lockerung und den folgenden drakonischen Restriktionen hatten die meisten Autoren sich dem System gegenüber bislang loyal verhalten. Die Kritik richtete sich immer nur auf Entgleisungen wie die Anti-rechts-Kampagne 1957/58 oder die Kulturrevolution, niemals aber auf das bestehende System als solches. Bezeichnend sind die Worte Wang Mengs, der 1957 für fünf Jahre in ein Umerziehungslager gesteckt wurde und anschließend verbannt in Xinjiang leben mußte: „Unser einziger Gedanke war, wir wollten uns umerziehen lassen, unser Gehirn waschen. Damals hoffte ich, daß ich nach einiger Zeit körperlicher Arbeit, vielleicht nach drei, vier Jahren, sowohl von anderen als auch von mir selbst wieder akzeptiert, daß ich wieder ein qualifizierter Revolutionär würde.“ Es ist schwer, zu entscheiden, ob bittere Ironie aus diesen Zeilen spricht oder die Einsicht eines alten Mannes in die Torheiten der Jugend. Doch allein die Tatsache, daß die Gescholtenen nach Jahren unruhigen politischen Fahrwassers wieder an die Oberfläche gespült wurden und dann ihrerseits an den Schalthebeln der Macht saßen, ohne daß sich Entscheidendes verändert hätte, spricht für den grundsätzlichen und tief verwurzelten Glauben an die sache und nicht für ein Infragestellen. Und das hat sich geändert. Diesmal ziehen die Intellektuellen und Schriftsteller nicht mehr mit, begnügen sich nicht mehr mit selektiver Kritik am Bau. Ihr Augenmerk hat sich von den Reparaturaufgaben abgewandt. Ihnen geht es um den Bau eines neuen Hauses.
Das Ende
Die Zerstörung der Demokratiebewegung hat in der chinesischen Kulturlandschaft einen nicht überschaubaren Schaden angerichtet. Die Gegenwartsliteratur krankt an einem enormen Traditionsdefizit und dem Mangel an Entwicklungsmöglichkeiten. Seit Anfang dieses Jahrhunderts wird die genuine Literatur verachtet und westliche Literatur kopiert — und naturgemäß kamen die wenigsten Werke, die gleichsam in einem luftleeren Raum entstanden, über die Stufe eines schlechten Plagiats hinaus. Über die Qualität der kommunistischen Literatur ist kein Wort zu verlieren. Allein in den vergangenen zehn Jahren kam es zu hoffnungsvollen Ansätzen, die brutal zerstört wurden, bevor sie sich hätten entfalten können.
Undankbar war die Aufgabe der Sinologie, die chinesische Gegenwartsliteratur dem westlichen Publikum schmackhaft zu machen. Sie selbst weist immer wieder auf die mangelnde Qualität chinesischer Texte hin und rutscht fast zwangsläufig in die Rolle der Vaterfigur, die erläutert, warum das Kind zwar noch nicht so recht laufe, was für Fortschritte es gleichwohl in seiner persönlichen Entwicklung gemacht habe.
Nicht arroganter Eurozentrismus erschwert den allermeisten Lesern die Lektüre chinesischer Texte. An Wohlwollen hat es die letzten Jahre wahrlich nicht gemangelt. Es ist vielmehr die schematische Darstellung, die Naivität und Sentimentalität, die den europäischen und amerikanischen Leser nur wenig zu fesseln vermag.
Der Mangel an reflexiver Kraft der chinesischen Gegenwartsliteratur liegt aber nicht allein in der unerfreulichen politischen Situation begründet. Er resultiert zum überwiegenden Teil vielmehr auch aus der Abwesenheit einer wissenschaftlichen Tradition, ein Phänomen, das Joseph Needham in seinem Monumentalwerk Science and Civilization in China aufzuhellen versucht. Beklagenswert ist der Stand der Diskussion vor allem in den geisteswissenschaftlichen Fächern. Einerseits sind avancierte Positionen des abendländischen Diskurses vollständig unbekannt, andererseits gibt es keine Weiterentwicklung traditioneller chinesischer Diskurse, die eine ernstzunehmende Alternative bieten würden. Dieses Dilemma hat fatale Konsequenzen für die zeitgenössische chinesische Kulturlandschaft, insbesondere aber in den Bereichen Literatur und bildende Kunst. Es führte zu dem oben bereits angemerkten Exodus führender Intellektueller und Künstler auch schon vor dem 4.Juli 1989.
Politischer Dogmatismus, Dummheit und frivoler Machtsicherungsinstinkt haben jahrzehntelang sowohl die fruchtbare Aneignung der eigenen Tradition wie auch den notwendigen Diskurs mit außerchinesischem Denken wirkungsvoll unterbunden. Da schien sich in den vergangenen zehn Jahren ein Gesinnungswandel anzudeuten. Doch „die Verfolgung der Intelligenz nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens stellt vielleicht,“ so das bittere Fazit W.Kubins und H.Brauns im Vorwort des vorzüglichen Horen-Bandes (3. Quartal 1989), „das physische Ende redlicher Literatur und Kunst in China dar“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
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