: „Doppelte Buchführung“der Genetik
■ In ihrem Drang, den Menschen zu reduzieren und zu determinieren, gehen der Genforschung die biologischen und sozialen Zusammenhänge völlig verloren/ Die Diskussion über Chancen und Risiken verschleiert mehr als sie offenlegt
„Grundlagenforschung“, erklärte Wernher von Braun 1957 den LeserInnen der 'New York Times‘ in einem Interview, „besteht darin, zu tun und nicht zu wissen, was man tut.“ Das ist eigentlich eine erstaunlich reife Einsicht in seine Profession, auch wenn es nicht so gemeint war. Denn wir wissen, daß Gedanken dieser Art den Raketenforscher nicht nur nicht daran gehindert haben, sein Wissen ohne Rücksicht auf die Folgen anzuwenden. Seine Freiheit als Forscher, die Freiheit, nicht wissen zu wollen, ermöglichte es ihm erst, sein Know-how in physikalischen Belangen zunächst den Nationalsozialisten für die Entwicklung der „Wunderwaffe“ V2 in Peenemünde und bald darauf den USA für ihr Apollo-Programm zur Verfügung zu stellen.
Ausgegraben hat das Zitat Bernd Klees, für sein Buch Der Griff in die Erbanlagen — Verdrängte Probleme der Genom-Analyse. Er zeigt daran die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Grundlagenforschung auf. Und es ist erfreulich, daß er den naturwissenschaftlichen Zugriff auf das menschliche Erbgut (was immer das denn sei) nicht nur im Licht der Tagespolitik betrachtet, die viel Wesentliches schluckt, sondern in den philososphischen und wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang stellt, der mehr darüber verständlich macht als tausend Chromosomenbildchen.
Immer kleinere Einheiten
„Eines der größten Probleme der derzeitigen Molekularbiologie und Genetik dürfte sein“, schreibt Klees, „daß diese sich hoffnungslos von der Philosophie und Erkenntnistheorie entfernt haben. Gentechnik und Gendiagnostik ist die Antwort — doch was war die Frage? In ihrem Drang nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms werden Fragen nach anderen Bezügen und Wechselbeziehungen nicht mehr gestellt... Auch Erkenntnisse der Philosophie der Naturwissenschaften, der theoretischen Physik, liegen in der Regel außerhalb ihres Reflexionsbereiches.“ Klees spricht von der Quantenphysik, die schon vor Jahrzehnten plausibel nachwies, daß es eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt nicht wirklich gibt. Heute interessiert das, außer theoretischen PhysikerInnen, höchstens noch ReligionswissenschaftlerInnen und New-Age-AnhängerInnen. Die moderne Bio-Forschung, und nicht nur sie, spaltet ungerührt weiter an einer auf das, was mit technischen Verfahren nutzbar zu sein verspricht, reduzierten und determinierten Welt. „Wir wissen zwar von immer weniger und kleineren Einheiten immer mehr, doch gehen uns zunehmend die Zusammenhänge verloren. Für einen Molekularbiologen ist die Beziehung zur Zelle schon ein großes Problem, vom Organismus zu schweigen und von Beziehungen zu sozialen Gefügen, wie etwa einer Gesellschaft, gar nicht zu reden.“
Verantwortungslose Wissenschaft
Klees führt uns in seinem Buch auf einen nur 100 Seiten langen, rasanten Ritt durch die Abgründe der Erbgutforschung. Das geht los mit den „vier Übeln der industrialisierten Forschung“, der unsoliden Wissenschaft, dem wissenschaftlichen Unternehmertum, der verantwortungslosen Wissenschaft und der schmutzigen Wissenschaft, Begriffe, die 1973 exemplarisch von Jerome Ravetz entwickelt worden sind. Weiter über die Zwillingspärchen Chancen und Risiken, Gentechnik und Verantwortung — Klees nennt das zutreffend „doppelte Buchführung“, die mehr verschleiere als sie offenlege. Hin zur Bio-Ethik mit ihren rabiaten Statistiken, in denen bis auf die Stellen hinterm Komma genau ausgerechnet wird, wieviel Finanzaufwand sich diese Gesellschaft durch eine Vorauslese der Embryonen für die Behandlung bestimmter Krankheiten ersparen könnte. In den letzten Kapiteln schließlich befaßt Klees sich mit seinem eigentlichen Fachgebiet, der Genom-Analyse in der Arbeitswelt, mit deren Hilfe chemikalienresistente ArbeiterInnen aus dem Gros herausgefiltert werden sollen. Hier finden sich Tabellen und wissenschaftlicher Hintergrund, aber auch aufschlußreiche und erschreckende Innenansichten aus Konzernen hier und in den USA.
Spezialisten mit „Menschenmaterial“
Häufig tritt Bernd Klees seine Kommentare an andere ab, die er in ausfürlichen Zitaten zu Wort kommen läßt. Dabei hat er einiges an Literatur zu Tage gefördert, was sich heute, zwanzig oder gar sechzig Jahre nach dem ersten Erscheinen, aktueller denn je liest: „Jede neue Generation“, schrieb zum Beispiel schon 1970 Friedrich Wagner in seinem Buch Weg und Abweg der Naturwissenschaft, „wird immer schwerer von ungelösten oder unlösbaren Daseinsproblemen belastet, die den Entdeckungen und Erfindungen der Generationsphase vor ihr entsprungen sind. Ihre Konfrontation mit ,Forschungsergebnissen‘, wie den Atom- und Raumwaffen, stellt sie vor den Abgrund zwischen der biologisch-geschichtlichen Menschennorm, an die sie notgedrungen gebunden ist, und der Sekundärwelt der Forschung und Technik, die sie sich schuf. Die ,biologische‘ Lösung dieses Problems, die von den Genetikern heute erörtert wird, reißt dazu noch den Abgrund zwischen dem Menschen und seinem projektierten künstlichen Nachfolger auf.“
Alexander Mitscherlich wendet es positiv: „Wir wollen eine Wissenschaft für, mit und durch den Menschen und nicht für eine Fiktion von Spezialisten mit ,Menschenmaterial‘ — eine menschliche Wissenschaft und keine, die die Organe des Menschen prüft, aber an seinem Antlitz verständnislos vorübergeht und damit selbst unmenschlich wird.“ Susanne Billig
Bernd Klees: „Der Griff in die Erbanlagen — Verdrängte Probleme der Genom-Analyse“, 1990, Steinweg-Verlag, 16,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen