Schattenboxen im blauen Drillich

■ Der Massensport, einstmals von Mao gefördert, ist in China auf dem Rückzug: Nur die Alten turnen noch

Peking (taz) — Chinas Sportführer werden nicht müde, bei jeder Gelegenheit zu erkären, daß die XI. Asienspiele großen Einfluß auf die Förderung des Breitensports nehmen werden. Als Beispiel wird der Tischtennisboom angeführt, nachdem Artisten wie Rong Guotuan und Zhuang Zedong die Welt mit dem kleinen Zelluloidball eroberten. Doch seit den Wirtschaftsreformen, Chinas Öffnung zur Außenwelt und dem Eintritt in den kommerziellen Leistungssport 1979 haben sich die Topathleten von den Massen isoliert.

Chinas Vorsitzender Mao Zedong hatte sich zu Lebzeiten immer für den Massensport stark gemacht. Ein gut gedrilltes und körperlich ertüchtigtes Volk brauchte sich vor den ausländischen Imperialisten nicht zu fürchten. Damals gingen die Bilder von Hunderten von Menschen, die in Fabrikhallen, in Amtsstuben und auf Sportplätzen nach den Kommandos einer Radiostimme Muskeln und Herz stärkten, um die ganze Welt. Zu Beginn der Kulturrevolution wurden gar die Spitzenathelten aufs Land geschickt, um die Bauern im Hochsprung, im Tischtennis und Basketball zu üben.

China heute, gegen sechs Uhr früh in den städtischen Parks: Im Morgendunst, der nur langsam der aufgehenden Sonne weicht, üben Männer und Frauen im blauen Drillich Schattenboxen in Gruppen oder auch, in Meditation versunken, ganz alleine zwischen Bambushainen und kleinen Pavillons. Andere haben ihre Aktentasche ins Gras gelegt und dehnen, an einen kleinen Baum gelehnt, die Gliedmaßen, während sich zwei Tennisspieler auf einem asphaltierten Weg ohne Netz und Linien den Ball zuschlagen.

Doch der Eindruck täuscht. Nur noch wenige Jugendliche findet man zwischen den Rentnern. Sport ist zur Angelegenheit weniger Spitzensportler und Chinas älterer Generation verkümmert. Daß von staatlicher Seite die Zahl von 300 Millionen Sporttreibenden genannt werden kann, liegt am Pflichtfach Sport in der Schule und den Studenten.

Aus diesem nahezu unerschöpflich anmutenden Reservoir sichten die Trainer ihre Talente. Doch nur selten werden wissenschaftliche Kriterien zur Selektion herangezogen. Nehmen wir den 16jährigen Liu Wei, Neffe eines Trainers an der bekannten Xiannongtan-Sportschule. Weil der kleine Liu schon bei einigen Schülerlaufwettbewerben beachtliche Leistungen gezeigt hatte, überredete Vater Liu seinen Bruder, es mit seinem Sprößling doch mal in der Radmannschaft zu versuchen.

Doch nach zwei Jahren Training stellte sich heraus, daß ihm der Wille zum echten Velosportler fehlt. Liu Wei wurde aus der Mannschaft von heute auf morgen entlassen und konnte noch glücklich sein, ohne wirkliche Schul- und Berufsausbildung als Pförtner eines großen Hotels einen Arbeitsplatz zu finden. Die Lust am Sporttreiben hat er indes verloren.

Nur wenige Jugendliche haben die Chance, sich in verschiedenen Disziplinen zu testen und sich selbst nach eigenen Neigungen zu entscheiden. Sport findet hinter großen Mauern in Sportschulen statt, Wettkämpfe — abgesehen von großen internationalen Veranstaltungen und einigen Fußballspielen — werden unter Ausschluß der Öffentlichkeit ausgetragen. Wie soll die Bevölkerung auch erfahren, wo und wann ein kleinerer Wettbewerb ausgetragen wird? Keine Plakate und nur wenige Hinweise in Zeitungen und Rundfunk kündigen solche Veranstaltungen an. Chinas Athleten trifft man nur auf der Mattscheibe im Wohnzimmer.

So verwundert es auch nicht, daß die Asienspiele in Peking nicht ganz den erwartet großen Zuschauerzuspruch finden. Ein Mitarbeiter des staatlichen Sportkomitees zog seinen eigenen Schluß: „Die Stadien sind viel zu weit weg. Ich schaue mir das Ganze am Fernseher an. Das ist viel gemütlicher.“

Jürgen Viethen