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Spontan eruptive Ideologie

■ »Rotter« von Thomas Brasch im Berliner Ensemble

Vielbezügliches Raunen im Raum: »Es ist keine Ordnung mehr in der Republik:/Vom Fieber geschüttelt die Politik./Regierungen kommen, man hört sie kaum,/Regierungen fallen wie Pflaumen vom Baum./Chaos in Erziehung und Industrie —/die Preise stoßen den kleinen Mann in die Kinie./Wahlversprechungen in den Dreck getreten,/in den Straßen prügeln sich die Proleten.«

Mit diesen Sätzen, die gleich zu Beginn der Aufführung von zwei Männern ins Publkum gesprochen werden, gibt der Regisseur des Abends, Christoph Schroth, schon seine Intention bekannt: Thomas Braschs Drama Rotter, ein deutsches Märchen, wie es auch genannt wird, hat er als Parabel auf die heutige deutsche Lage inszeniert. Rotter ist einer, der sich »an die Stromquelle Geschichte anschließt, zum Schluß abgeschaltet wird und neben einer Stehlampe sitzt und ins Dunkle sieht«: Rotter, die verkörperte DDR?

Ende der Weimarer Republik: Rotter schlägt mit einer Axt auf einen Schweinskörper ein, schlägt zwischen Beinen und Kopf eine Vagina frei, das Schwein hängt von einem Holzbalken, das Bild des Leidens am Kreuz. Rotter höhnt über den »goldenen Boden des Handwerks«, rafft sein Leben in einem wortlosen Satz zusammen, in dem vorne und hinten das Wort Hackholz steht. Er kommt zu dem Schluß, daß er selbst das Schwein ist, das da vor ihm hängt. Und schon hat er die eigene Pulsader erwischt.

In solch expressionistisch-holzschnittartiger Charakterzeichnung geht er durch Rotters Leben hindurch: Im nächsten Bild steht er auf einer schwarzen Treppe vor einem roten Vorhang, schwimmt gleichsam in den Blutstrom des Nazideutschland hinein. Natürlich, er ist Nazi geworden, sein Ton und die Schultertressen heben ihn jetzt über das Tiersein hinaus. Die Pflastersteine schleudern er und die seinen wie Diskuswerfer in die Kristallnacht hinein: der Jude, in weißem, fließenden Seidenanzug, der sich über die geköpften und zerstückelten Schaufensterpuppen beschwert, wird wegen Staatshetze abgeführt.

Natürlich wird es eine Frau in Rotters Leben geben, sie wird Elisabeth heißen und blond-blauäugig-germanisch sein: Gleich nach der Hochzeit muß Rotter sie verlassen, da er in die Hauptstadt der Bewegung, nach Berlin, reisen muß. Am Bahnhof stellt er ihr die für seine Heldwerdung maßgeblichen Personen vor: auf einem Fließband zwischen Zuschauern und Hochzeitspaar gleiten die Lehrerin, der Hauptmann, Freunde aus der Bewegung und andere vorbei. Nur einer stört die Abschiedsidylle: Lackner, ein einstiger Mitschüler Rotters und schon immer sein Gegenspieler, tritt jetzt zwischen das Hochzeitspaar: Er rächt sich an Rotter, der ihn einst in Zuchthaus gesteckt hatte, mit der Eröffnung, daß Elisabeth früher seine Geliebte gewesen sei.

Rotter flieht nach vorne in den Schützengraben und schießt noch über das Kriegsende hinaus: die ihm unterstellten Soldaten, in Gitterbettchen als ihrem Unterstand hockend, bringen sich vor lauter Schießgeilheit und Kapitulationsunglauben unfreiwillig selber um.

Rotter überlebt. Einer wie er geht nicht unter. Er ist, wie Thomas Brasch sagt, ein Held, »der nur atmen kann, wenn ihm die Geschichte ins Gesicht schlägt«. Solche Schläge, behauptet Brasch, hält auch der Sozialismus bereit. »Die deutsche Geschichte als heroische Landschaft« geht nach 1945 weiter: Rotter dreht sich im Wind und plustert sich in ihm auf. Als Brigadeführer verordnet er Huren statt Urlaub, er schlägt 1953 den Aufstand seiner Arbeiter nieder, er sieht Mutter und Frau nicht mehr, er kommt zu spät zum Tod seiner Mutter, er schreibt indes schmachtende Briefe nach Hause.

Auf gotischem Chorgestühl darf er kurzfristig an seiner Seite sitzen, er wird zum Helden der Arbeit gekürt, er erhält Auszeichnung auf Auszeichnung, nur damit sein Fall um so tiefer wird. Die Aufbauzeit ist vorbei, wird ihm erklärt, man brauche jetzt andere als ihn, er könne zu seinem alten Beruf zurückkehren, er habe doch Metzger gelernt. Da ist es für einen deutschen Samurai an der Zeit, sich in sein Schlachtmesser zu stürzen. Eine anschließende Schädelöffnung ergibt: »spontan eruptive Ideologie. Unterentwickeltes soziales Bewußtsein. schmale aufgepropfte Individualität. These: ein Nichts, das an sich selber irre wird.« Und er stirbt gemeinsam mit Lackner, beide an Herzenstod.

Christoph Schroths Inszenierung neigt zu einer Naturalisierung der von Brasch behaupteten Zwangsläufigkeit: die Schauspieler, die sich niemals in einer konkreten Umgebung, dafür immer in einer Art Märchenwald bewegen, einem Geflecht aus laublosen Baumstämmen und Vorhängen mit Baum-, Fledermaus- und Totentanzmotiven darauf, sprechen nie miteinander, sie dozieren ununterbrochen von der Bühne herab. Der Stil des Berliner Ensembles, der gequetschte, dröhnende Ton und die dauernde Habachtstellung des Körpers, hat sich nicht nur wegen des Themas auch bei dieser Aufführung der Brechtschule durchgesetzt.

Ein Passionsspiel und Kreuzwegstationen-Drama der deutschen Seele. Aber mit der Metzgeraxt auseinandergelegt. Eine Theaterform, die sich ebenso grobschlächtig und blind durch die Geschichte bewegt wie Rotter selbst. Vielleicht war das das Schlimmste am Sozialismus, daß er alle Unterschiede tatsächlich gleichgemacht hat. »Der exemplarische Lebenslauf des deutschen Untertans, der mangels Eigenart und Selbstbewußtsein in allen politischen Systemen funktioniert«: die These der Kontinuität von Faschismus und Sozialismus in Braschs Stück, noch in der DDR begonnen, im Westen fertig geschrieben und 1977 in Stuttgart zur Uraufführung gelangt, war sicherlich zur damaligen Zeit provokativ. Jetzt wirkt sie unerträglich wiedergekäut und geradezu reaktionär, weil sie eine Kontinuität deutschen Duckmäusertums für alle Zeit und ohne Ansehen des Systems festzuschreiben scheint. Nach dem Fall der Mauer hat man der sterbenden DDR nicht mehr nur von rechts ins Gesicht geschrien, daß sie immer ein KZ gewesen ist. In einem Moment, in dem der Wind wieder von vorne kommt, verwischt das Theater alle Differenz. Michaela Ott

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