: Mit harten Waden in die Einheit
■ 25.000 spurteten durchs Brandenburger Tor zum Marathon durch beide Stadtteile/ Ein 60jähriger britischer Läufer starb wenige Meter nach dem Start an Herzversagen/ Organisatoren sprachen von vorgezogener Vereinigungsfeier
Berlin. Jeder Marathon hat ein Ziel — nur Berlin hat zwei. »Der Lauf durch das Brandenburger Tor«, hatte Cheforganisator Horst Milde vollmundig angekündigt, »bedeutet eine vorgezogene Vereinigungsfeier«. Der »Startmasse« am Charlottenburger Tor merkte man dies an. Wohl noch nie in der Geschichte eines City-Marathons konzentrierte man sich ähnlich verbissen auf Kilometer drei, die Unterquerung des quadrigalosen Bauwerkes. Ein Sponsor lockte zusätzlich mit einer Prämie für den glücklichen Etappensieger, der als erster die entrüstete Baustelle durchmaß. Wie aus der x-ten Zuschauerreihe Unter den Linden zu beobachten war, könnten der Franzose Thierry Plantel oder der Brite Hugh Jones die Glücklichen gewesen sein. Ein sportliches Dankeschön an die Alliierten! Dem großen Herz blieb nur ein erhöhter Pulsschlag. Einem Jogger schien der Atem des historischen Augenblicks jedoch die Luft geraubt zu haben. Kurz nach dem Start um 9 Uhr drang die Nachricht bis zum Brandenburger Tor durch, daß ein 60jähriger britischer Läufer gleich nach Erreichen dieses Muß-Punktes tot zusammengebrochen war: Das erste Opfer des wiedervereinten Deutschlands.
Unaufhörlich drängten sich die Startnummern zwischen den Säulen hindurch. Zum Glück war der Großteil der 25.000 aus Platzgründen noch gar nicht in den Laufrhythmus verfallen, sonst hätte man wohl einige Trikots vom Gemäuer schaben können. Fangruppen und Verwandte harrten vergeblich, um ihre Liebsten zu identifizieren. In dem schwitzenden Gewühl, aus dem nur jubelnde Arme, Fähnchen und die Köpfe der Längsten herausragten, war kein Mensch zu erkennen. Selbst das ARD-Team, das selbstredend in der ersten Reihe sitzen mußte, bangte um seinen festen Arbeitsplatz. Gleich hinter Kilometer drei begann für Organisation und laufendes Fußvolk absolutes Neuland. Für diese 8.000 Meter durch das einstige Feindesland mußte Horst Milde seit dem 12.November mehr Schweiß lassen als mancher Jogger am Sonntag. Von dort kamen in den letzten Jahren jene Laufenthusiasten, die nur unter dem Namen ihrer Katze oder unter Vortäuschung falscher Familienfeiern an den Start gehen durften. Um so größer war die allgemeine Entäuschung über das Loch, das sich entlang der Strecke ab der Volkskammer auftat. »Die Leute haben fürwahr andere Probleme, als dieser Rennerei zuzuschauen«, lautete der Tenor von Passanten.
So begann das »Tal der Tränen«, die Lust, dem inneren Schweinehund freien Lauf zu lassen, früher als befürchtet. Vorbei war es mit der adrenalinfördernden Wirkung aushäusiger Anpeitscher. Jetzt zählten allein lockere Waden und ein fröhlich geweitetes Herz. Jubelstürme bei Massenveranstaltungen — die Leute in Ost-Berlin machen sich dazu offensichtlich ihre eigenen Gedanken. Während die Klassenbesten Steve Moneghetti (Australien) sowie Uta Pippig (Stuttgart) ihren wohlverdienten Prämien in Rekordzeit (2:08:16 bzw. 2:28:35 Stunden) entgegenschlenderten, reduzierten die 42 Kilometer die breiten SportlerInnen auf ihr wahres Ich. Die Haxen mühsam mit den Armen synchronisiert, wandelten noch drei Stunden nach dem Start die Letzten der Letzten bei Kilometer 25 (!) in Kreuzberg über den Asphalt. Die Puste der Geschichte war ihnen entfleucht. Nur die Klügsten dachten in realen Dimensionen daran, daß die Startnummer zugleich einen Beförderungsschein für die öffentlichen Verkehrsmittel darstellte. Jürgen Schulz
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