: Jeder Schritt ein Tritt
In Indiens Teppichindustrie schuften Tausende von Kindern/Teppichexport verzeichnet seit Jahren hohe Zuwachsraten/Humanitäre Organisationen verlangen Importstopp von Teppichen aus Kinderarbeit ■ Von Walter Keller
„Mit jedem Schritt auf einem schönen Teppich tritt der europäische Käufer eigentlich das Kind, das ihn geknüpft hat“, erklärt mir Kailash Sytyarthi, Mitarbeiter der in Delhi ansässigen Organisation gegen Kinderarbeit und Schuldknechtschaft, „Bandhua Mukti Morcha“ (BMM), im Gespräch über die Zustände in Indiens Teppichindustrie. Dieser Industriezweig hat sich während der vergangenen zehn Jahre mit jährlichen Exporterlösen von umgerechnet etwa einer halben Milliarde Mark zu einem der Hauptdevisenbringer für die asiatische Wirtschaftsmacht entwickelt. Die gewaltigen Zuwachsraten, die dieser Industriezweig verzeichnet, sind auf die politische Lage im Iran seit Mitte der 70er Jahre und ein Verbot von Kinderarbeit in diesem Land zurückzuführen.
Europäische Händler sowie lokale Hersteller und Exporteure taten alles, um dieses Angebotsvakuum zu füllen. Und dabei konnten sie sich der Unterstüztung der indischen Regierung sicher sein. Sie trat mit dem Slogan „Die Spitzenstellung unter den Teppichproduzenten zu erringen“ auf den Plan, und erklärte die Steigerung der Exporte zur nationalen Aufgabe und zur patriotischen Tat, was angesichts einer Auslandsverschuldung von mindestens 100 Milliarden Mark fast noch verständlich erscheint.
Die Produktionsbedingungen in der indischen Teppichindustrie sind unter Profitgesichtspunkten denkbar günstig: Niedrigstlöhne, Kinderarbeit und Schuldknechtschaft. Nur wenige Menschen in Indien oder Europa machen sich Gedanken über diejenigen, die mit ihrer Arbeit zum Devisensegen beitragen und den Reichen die schöneren Wohnzimmer bescheren.
90 Prozent aller handgeknüpften Teppiche Indiens, die auf annähernd 100.000 Webstühlen produziert werden, stammen aus etwa 1.500 Dörfern im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh. In den Distrikten Mirzapur, Varanasi, Allahabad und Jaunpur werden sie in Heimarbeit geknüpft — und zwar meist von Kindern, die trotz zunehmender Arbeitslosigkeit unter Erwachsenen immer wieder unter ausbeuterischen Bedingungen Jobs finden. Kinder sind eben noch billiger.
Nirgendwo sonst in Indien gibt es so viel Kinderarbeit wie in dieser „Teppichregion“. Die Industrie beschäftigt zehntausende von Kindern im Alter zwischen fünf und 15 Jahren, die mit ihren kleinen Fingern meist Teppiche mit persischen Mustern knüpfen. Dabei geht es den Kindern, die aus einer traditionellen Knüpferfamilie stammen und zu Hause arbeiten, noch relativ gut. Sie erlernen das Handwerk schon früh von ihren Vätern.
Tausende von Kindern wurden jedoch von „Zwischenhändlern“ angeworben, die im Auftrag von Webstuhlbesitzern arbeiten. Im Fall der Teppichindustrie im Bundesstaat Uttar Pradesh kommt der „Nachschub“ häufig aus dem benachbarten Bundesstaat Bihar, der zu den ärmsten Regionen des Subkontinents zählt. Die Menschen dort leiden ganz besonders unter chronischer Armut, wirtschaftlicher Ungleichheit und sozialer Diskriminierung in ländlich-feudalen Strukturen. Die Familien der angeworbenen Kinder gehören häufig zur Gruppe der sogenannten Unberührbaren, der Parias, stehen also außerhalb des indischen Kastensystems.
Eine moderne Form der Leibeigenschaft
Die angeworbenen Kinder arbeiten oft in einem Beschäftigungsverhältnis, das an eine moderne Form der Leibeigenschaft erinnert: Schuldknechtschaft. Für die Eltern ist das Geld, das skrupellose Geschäftemacher in Form kleiner „Vorschüsse“ von umgerechnet 20 bis 100 Mark auf die Arbeit ihrer Kinder zahlen, nicht selten nötig, um zu überleben. Daß ihre Kinder nie die Gelegenheit haben werden, die Schulden abzuarbeiten, wissen sie nicht. Nicht selten werden Kinder aus verarmten Dörfern sogar entführt und dann zur Arbeit gezwungen. „Einmal in den Klauen ihres Arbeitgebers, der die Arbeit einteilt und die Löhne nach Gutdünken festsetzt, dann jedoch vielfach nicht zahlt, leben sie in totaler Isolation, unterernährt, ohne medizinische Versorgung und ohne Schulbildung“, kritisiert Rama Kanth Rai, Mitarbeiter einer an den Prinzipien Ghandis orientierten Organisation in Varanasi, die Zustände in der Industrie.
Der siebenjährige Shankar zählt zu 13 Kindern, die vor kurzem in Nadani, einem Dorf im Marzapur Distrikt Uttar Pradehs, aus der Schuldknechtschaft eines Webstuhlbesitzers befreit wurden. „Wir wurden mit glühenden Zigarrettenstummeln verbrannt, wenn wir nach unserer Mutter riefen“, berichtet er. „20 Stunden lang mußten wir täglich in einem kleinen dunklen Raum schuften. Wir bekamen kaum zu essen und wurden ständig geschlagen. Ich habe versucht, mich umzubringen, um dieses grausame Leben zu beenden.“
Kailash Satyarthi und seine Organisation, die „Bandhua Mukti Morcha“, die sich dem Kampf für das Ende von Kinderarbeit und Schuldknechtschaft verschrieben hat, arbeiten seit 1980 unermüdlich gegen alle Formen dieser modernen Leibeigenschaft, die sich bis heute in Indien erhalten hat. Obwohl die Organisation bisher schon über 3.000 Kinder aus den Klauen ausbeuterischer Webstuhlbesitzer oder Zwischenhändler befreit hat, sind die Aussichten auf ein Ende von Kinderarbeit und Sklaverei in Indien allgemein weiterhin schlecht. Die Verfilzung von Arbeitgebern, Subunternehmern oder Anwerbern mit Polizei und Verwaltung und deren scheinbare Allmacht sowie die Apathie des Staates gegenüber dem Problem und die unbeschreibliche Armut von Millionen von Indern, geben kaum Grund zur Hoffnung.
Nicht nur in der Teppichindustrie arbeiten Kinder unter solchen Verhältnissen. Allein in der Handweber- Industrie in Kanchipuram, einem Ort im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu, arbeiten 20.000 Kinder im Alter zwischen sieben und 14 Jahren für zwei Rupien am Tag, etwa 20 Pfennig. Die für die Unternehmer einträgliche Bidi-Industrie, die vor allem im Bundesstaat Karnatka angesiedelt ist und die „Zigarette des kleinen Mannes“ aus einer Mischung schlechter Tabake und Blättern eines Baumes produziert, beschäftigt Zehntausende von Kindern.
Mit der Steichholzherstellung in Sivakasi in Tamil Nadu verdienen sich 50.000 Kinder ein paar Pfennige, 20.000 davon unter Bedingungen der Schuldknechtschaft. 50.000 Kinder schuften unter extremen Bedingungen in der Glasindustrie von Feroyabad, 65.000 in den Diamantschleifereien von Surat und Jaipur. 300.000 Kinder arbeiten für ihre Herren in Minen, Steinbrüchen oder auf Baustellen, ein Großteil von ihnen steht in Schuldknechtschaft.
Schon in jungen Jahren leiden dabei die in der Bidi-Industrie tätigen Kinder unter chronischer Bronchitis und Tuberkulose, in der Glasindustrie herrschen Asthma und Augenleiden vor. Die Streichholzherstellung ist ganz besonders gefährlich: Todesfälle durch Explosionen in Hinterhof-Produktionsstätten sind keine Seltenheit. In der Teppichindustrie hat eine Stichprobenuntersuchung ergeben, daß 50 Prozent der Kinder unter Blutarmut leiden und Würmer haben. Hautausschlag und Erkrankungen der Atemwege sind weit verbreitet. Schuld sind die Wollpartikel, die das Leben der hier Arbeitenden drastisch verkürzen.
Insgesamt sollen es in Indien ungefähr zehn Millionen Kinder sein, die sich als sogenannte „bonded labourers“ verdingen und aus dem damit verbundenen Teufelskreis von Abhängigkeiten nicht mehr herauskommen. „Sie sind die schutzlosesten Exilierten der Gesellschaft, ohne Identität, ohne Stimme und existieren offiziell eigentlich gar nicht“, meint Kailash.
Unternehmerinteressen gegen Kindesrechte
All dies passiert, obwohl auch in Indien „Die Rechte des Kindes“ in der Verfassung klar definiert sind. Artikel 39 weist den Staat an, die Kindheit zu schützen und die notwendigen Maßnahmen für eine gesunde Entwicklung der Kinder zu treffen. Artikel 45 sieht Schulpflicht bis zum 14.Lebensjahr vor. 1986 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das Kinderarbeit in besonders gesundheitsgefährdenden Industrien ganz verbietet. Und zu ihnen zählt unter anderem die Teppichindustrie. Aber dies nehmen Hersteller und Händler nicht ohne weiteres hin. „Wir verhandeln mit der Regierung, damit die Teppichindustrie vom Index genommen wird“, meint J. K. Kanna von der „All India Carpet Manufacturers Association“, „die Arbeit in der Industrie ist nicht gesundheitsgefährdend“.
Swami Agnivesh, Präsident der „Bandu Mukti Morcha“, der sich vor einiger Zeit auf Einladung des evangelischen Hilfswerks „Brot für die Welt“ in der BRD aufhielt, sieht das natürlich ganz anders: „Unsere Regierungen tun nicht genug für die Kinder. Auch die neue Regierung hat bisher kein großes Interesse daran gezeigt, dem Gesetz Geltung zu verschaffen“, erklärt er. Agnivesh, derzeit einer der bekanntesten Sozialreformer und Kritiker in Indien, glaubt, Kinderarbeit in Indien könne nur dann abgeschafft werden, wenn es der Regierung gelänge, das Wohlfahrtssystem umfassend zu reformieren und das Schulsystem zu verbessern. Aber das sei natürlich leichter gesagt als getan.
„Es besteht natürlich gar kein Zweifel daran, daß Kinder nicht aus Mildtätigkeit beschäftigt werden“, fügt sein Kollege Kailash hinzu und weist damit Argumente zurück, die in Indien wie in Europa oft für die Legitimation von Kinderarbeit herhalten müssen. Es sei eben „nicht zu ihrem Besten“. Sie seien die billigsten Arbeitskräfte, die man außerdem am leichtesten unterdrücken und unter Kontrolle halten könne.
Aussichten auf kleine Erfolge der Arbeit seiner Organisation und der Maßnahmen des neuen indischen Arbeitsministers sieht Agnisweh immerhin beim Kampf gegen Schuldknechtschaft. „Der Minister hat in seinem ersten Interview gesagt, er werde es als seine Priorität ansehen, den Kampf gegen die Schuldknechtschaft zu intensivieren. Er hat unsere Organisation und mich eingeladen, ihm diesbezüglich Vorschläge zu unterbreiten“, erklärt er. Er habe die Bildung einer Kommission zur Untersuchung des Systems der Schuldknechtschaft vorgeschlagen.
Obwohl der Arbeitsminister sich für die Frage interessiert und obwohl in letzter Zeit durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes in Sachen Schuldknechtschaft und durch persönliches Engagement einer Reihe indischer Persönlichkeiten einige Erfolge im Kampf gegen die Kinderarbeit erzielt wurden, müssen noch viele Hürden genommen werden: Beispielsweise hat die Bürokratie oft wegen der Verfilzung kein großes Interesse an der Abschaffung dieses unmenschlichen Systems. Andere zuständige Beamte greifen nicht effektiv durch, weil sie Angst vor ihrer Versetzung oder sogar Bestrafung durch Vorgesetzte haben.
Anläßlich seines Besuchs in Stuttgart wollte Agnivesh für eine Kampagne werben, die Kinderarbeit zumindest in der Teppichindustrie einschränken soll. Er fordert die deutschen Händler auf, ihre Ware so zu kennzeichnen, daß für den Käufer erkennbar ist, ob ein Teppich von Kindern hergestellt worden ist oder nicht. „Wenn Deutschland in dieser Frage eine Vorreiterrolle spielt, bin ich davon überzeugt, daß sich auch andere Länder anschließen werden.“
Kauft keine Teppiche aus Kinderarbeit
Natürlich weiß er, daß seine Idee nur schwer zu realisieren sein wird. „Selbstverständlich müssen wir sicherstellen, daß die Angaben — die ja aus Indien kommen müssen — zutreffend sind. Die Teppichindustrie hat allerdings eine Struktur, die ihre Überwachung sehr schwierig macht. Die Produktion spielt sich ja nicht in Fabriken ab, sondern in den Dörfern. Darüber hinaus gibt es eine ganze Kette von Subunternehmern.“ Seine Organisation sei deshalb für eine Überwachung nicht geeignet.
Als ersten Schritt hat der Aktivist ein Zusammentreffen aller indischen Hilfsorganisationen angeregt, die in der „Teppichregion“ arbeiten, um ihre Erfahrungen für weitere Maßnahmen zur Einschränkung der Kinderarbeit zu nutzen. „Wir müssen vorsichtig sein, damit die indischen Hersteller und Exporteure nicht ihre Märkte verlieren. Sonst wird es eine Gegenkampagne mit dem Tenor geben: ,Die arbeiten doch in die Hände anderer Herstellerländer.‘ Und das wird dann schnell als antinational verurteilt.“ Aber letztendlich verlangt Agnivesh von indischen Herstellern und ausländischen Händlern nichts anderes, als die Einhaltung der Bestimmungen der indischen Verfassung und die Herstellung der von den Vereinten Nationen festgeschriebenen „Rechte des Kindes“.
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