Gesucht: Grenzwert für das Risiko

In Köln trafen sich Wissenschaftler, um eine endgültige globale Formel für ein „Leben in Sicherheit“ zu finden  ■ Von Irene Meichsner

Jeder kennt den TÜV, aber nur wenige sind sich über seine Macht im klaren. Wer weiß schon, daß allein die TÜV-Rheinland-Gruppe über 46 Tochtergesellschaften und Niederlassungen in Europa und Übersee verfügt. Daß sie pro Jahr mehr als eine halbe Milliarde D-Mark erwirtschaftet und sich zur „Spitzengruppe“ derjenigen Unternehmen zählen darf, die — so die Eigenwerbung — ihr „breitgefächertes Dienstleistungsangebot“ der Industrie und Politik zur Verfügung stellen?

Als besagter TÜV-Rheinland vor zwei Jahren in Köln schon einmal die Gefahrenlage der Industriegesellschaft diskutieren ließ, war das Motto noch in eine Frage gekleidet: „Leben ohne Risiko?“, zu dem letzte Woche rund 1500 Fachleute ins Kölner Maritim-Hotel geladen waren, trumpfte der Gastgeber deutlich selbstbewußter auf. Obwohl es bekanntlich wenig Anzeichen dafür gibt, daß der Betrieb von Chemieanlagen oder Atomkraftwerken mittlerweile mit weniger Risiken für Mensch und Umwelt behaftet wäre, griff die Konferenz diesmal im Titel wohlgemut auf ein „Leben in Sicherheit“ voraus.

Was den Technischen Überwachungsverein so verblüffend zuversichtlich stimmte, ist eine neue, von ihm geförderte und begleitete Disziplin, die sich phantastische Ziele setzt. Sollte die „Sicherheitswissenschaft“ nämlich halten, was sich Albert Kuhlmann, der Vorsitzende der rheinischen TÜV-Geschäftsführung und wissenschaftliche Leiter der Konferenz, von ihr schon verspricht, wird das „Risiko“ demnächst an seiner Wurzel gepackt und damit endgültig unter Kontrolle gebracht. Gleich zum Auftakt hatte er klargestellt, auf welcher gedanklichen, ja philosophischen Ebene sich die „Sicherheitswissenschaft“ bewegt.

So soll nicht länger nach bloß „technisch-praktischen“ Lösungen für einzelne Gefahrenpotentiale gefahndet, sondern das „geistige Instrumentarium“ bereitgestellt werden, das gleichsam den Umgang mit dem Risiko als solchem erlaubt. Es gelte, so Kuhlmann, zuerst die Schwachstellen sämtlicher Technologien zu eruieren und danach — gestützt auf die „faszinierenden Fortschritte“ der mathematischen Rechentechnik — ein einheitliches „Maßsystem“ für Risiken festzustellen. Am Ende soll ein „Risikogrenzwert“ stehen, mit dessen Hilfe über das „Ja und Nein“ einer jeden Technologie zu entscheiden wäre.

Für die „Sicherheitswissenschaft“ könnte einnehmen, daß sie willens scheint, sich Einsichten zu beugen, gegen die sich Techniker bisher gesträubt haben. Immer wieder war in Köln zu hören, daß die herkömmlichen Methoden schlichter Sicherheits-„Technik“ nicht mehr zureichend sind. Zu sehr sei man — so die überraschende Selbstkritik — auf Details fixiert gewesen. Zu wenig habe man bedacht, daß Unfälle in der Regel auf ein vielfältiges Geflecht von Ursachen zurückzuführen und — siehe Seveso, Bhopal oder Tschernobyl — auch in ihren Folgen weitaus komplexer und verheerender sind als gedacht.

Und doch hinterließ der Kongreß Zweifel, ob die beschwingten Pioniere der „Sicherheitswissenschaft“ eigentlich wissen, wen sie die Risiken der Großtechnik über den Blick auf das „Sicherheitswesen“ (Kuhlmann) in den Griff zu bekommen versuchen — als ließe sich doch noch jene „Weltformel“ finden, nach der Kosmologen bisher vergeblich gesucht haben. Daran, daß man es ernst meint mit einer endgültigen, einzigen, international verbindlichen Definition dessen, was unter „Risiko“ zu verstehen ist, kann hingegen nicht der geringste Zweifel bestehen: „Es darf nicht sein, daß jede Gesellschaft das Wort ,Risiko' nach Gusto auslegt. In der Konsequenz eines „sicherheitswissenschaftlichen“ Denkens begegnet uns auch der Mensch im wesentlichen nur noch als „Risikofaktor“. In diesem Sinne zählte Masaki Koshi (Tokio) als Leiter der Sektion „Verkehr“ zum Beispiel „Fahrzeuge, Verkehrswege, Kontrolltechnik und Menschen“ als — man beachte die Reihenfolge — die vier „Hauptkomponenten von Transportsystemen auf, wobei der Mensch unbestreitbar der „veränderlichste und am wenigsten verläßliche, aber letztendliche unersetzliche Bestandteil von Transportsystemen“ ist. Nur — was tun, wenn er sich einerseits schwerlich aus dem Verkehr ziehen läßt, andererseits aber sogar die weitaus größte Zahl von Verkehrsunfällen auf menschliches Versagen zurückzuführen ist?

Es gibt prinzipiell nur zwei Möglichkeiten, um menschliches Fehlverhalten im Umgang mit der Technik als Gefahrenquelle auszuschließen: Entweder die Technik wird auf menschliches Maß zu- oder zurückgeschnitten, oder der Mensch wird umgekehrt der Technik angepaßt — und allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz liegt hier offenbar eine durchaus logische Folge der „Sicherheitswissenschaft“.

Auch hier legte der Gastgeber die Marschroute fest, als er beklagte, daß es „nicht einmal Checklisten der Eigenschaften gibt, die der Mensch im Umgang mit der Maschine besitzen muß“, obschon doch gerade ein solcher „Katalog“ die „Grundlage für ein Datenbanksystem zur statistischen Beschreibung menschlichen Verhaltens“ bilden könne.

Was sich in dieser Hinsicht anbahnen mag, macht der Psychologe Hans-Jürgen Eysenck (London) plastisch klar. Nicht nur, daß er aus Studien an Taxifahrer ableiten, daß Aggressivität im Fahrstil angeblich mit „abnormem“ Sozialverhalten einhergeht und in unmittelbarer Beziehung zu hohen Scheidungsraten bei den Eltern oder schlechten Leistungen in der Schule steht. Er ist genauso stolz darauf, daß wir nun „viele der physiologischen, neurologischen und hormonellen Faktoren“ identifizieren können, die als „Vermittler zwischen Genen und Verhalten“ fungieren.

Als die „Bedeutung der genetischen Disposition für Risiken in der Arbeitswelt“ in einer Sektion zur Sprache kam, wurde die Frage, ob die Industrie bereits genetische Untersuchungen an Mitarbeitern vornehme zwar noch verneint: Dies sei weder zu fürchten noch „wünschenswert“. Aber es liegt in der Luft.

So friedlich und „philosophisch“ die „Sicherheitswissenschaft“ daherkommt, sie scheint eine doppeldeutige Angelegenheit zu sein. Mit ihrer Rückendeckung konnten sich die in Köln versammelten Techniker sogar das Eingeständnis erlauben, daß das gestiegene Risikobewußtsein der Bevölkerung etwa gegenüber der Atomenergie dem sonst so angefeindeten Widerstand gegen Atomkraftwerke zu verdanken sei. Gleichzeitig liegt das Rüstzeug schon bereit, Widerstand als eine Kraft, die sich politisch artikuliert, mit den Mitteln der Mathematik ruhigzustellen: In die angestrebte globale Risikoformel geht die Angst vor Technikrisiken als mathematischer „Aversionsfaktor“ ein.