: Nicht Gnade, sondern Recht
■ Plädoyer für ein Einwanderungsgesetz für osteuropäische Juden INTERVIEW
taz: Bis zum 3. Oktober hatten die aus der Sowjetunion nach Deutschland emigrierenden Juden das Recht, in der DDR einen ständigen Wohnsitz zu nehmen. Rechtlich waren sie damit den DDR-Bürgern gleichgestellt. Jetzt gilt das bundesrepublikanische Recht, und das Bleiberecht wurde ersetzt durch das Duldungsrecht.
Prof. Axel Azzola: Ja, und das ist ein Skandal. Ich halte es auch für fürchterlich, daß die deutschen Konsulate in der Sowjetunion die Ausreiseanträge nicht mehr annehmen. Die Juden kommen trotzdem über alle möglichen Wege, aber alles wird momentan dem Zufall überlassen.
Zwischen allen Paragraphen
Die Emigranten fallen jetzt zwischen alle Paragraphen. Vertriebene nach dem Bundesvertriebenengesetz sind sie nicht, und nach der derzeit üblichen Auslegung des Asylrechts wird ihnen auch kein politisches Asyl gewährt, denn staatlich verfolgt werden die Juden in der Sowjetunion nicht, es ist vielmehr eine alltägliche Diskriminierung durch die Gesellschaft. Aber eine bedrohliche. Die Juden in der UdSSR leben mit der bösen Gewißheit, daß keiner sie schützt, daß sie jeder neuen Aggression schutzlos ausgeliefert sind, ihnen fehlt jede, aber auch jegliche Gewißheit auf Sicherheit. Das ist auf die Dauer ein unerträgliches Lebensgefühl.
Sie fordern eine Sonderaufnahmeregelung für jüdische Emigranten aus der Sowjetunion. In der UdSSR leben rund 1,8 Millionen Juden, die meisten wollen gehen, und zwar bald.
Zunächst muß man sich — wenn von einer Sonderregelung gesprochen wird — vor Augen halten, daß jede Regelung schmerzhaft ist. Denn wo es Regeln gibt, gibt es auch Grenzen, die zu akzeptieren sind. Der schlichte Satz, in der Sowjetunion leben 1,8 Millionen verfolgte Juden, und sie sind aufzunehmen, ist zwar schön, aber er läßt alles laufen. Und da bin ich in der Tat geneigt, zu sagen, Deutschland kann nicht alle aufnehmen. Es gibt ja auch noch die USA und Israel, und mit ihnen müssen internationale Vereinbarungen getroffen werden, die den Juden eine diskriminierungsfreie Zukunft erlauben. Auf der anderen Seite aber kann eine Sonderregelung nicht so aussehen, wie sie gerade in Bonn diskutiert wird. Die Vorstellung 300, 600, 1.000 oder meinetwegen auch 3.000 Juden pro Jahr aufzunehmen, ist keine Sonderreglung, sondern ein Scherz, eine Ausrede. Das errinnert ja an 1938, als sich die Westmächte nicht einigen konnten, wie viele Juden sie aufnehmen. Das ist fürchterlich. Es muß also über eine großzügige Regelung entschieden werden, über eine Regelung, die den bedrängten Menschen in der Sowjetunion eine realistische Chance bietet, das Land in einer realistischen Zeit verlassen zu können.
Sie fordern also keine humanitäre Geste, sondern das für die Juden einklagbare Recht, sich in Deutschland ansiedeln zu dürfen?
Ich fordere ein Sonderrecht, ein Gesetz, eine dritte Kategorie neben dem Vertriebenen- und dem Asylrecht. Und diese dritte Kategorie gilt für Menschen aus den osteuropäischen Vertreibungsgebieten. Und für dieses Recht habe ich eine moralische Begründung, denn die Moral kann sehr wohl das Fundament eines politischen Entschlusses sein. Die Deutschen haben eine besondere Pflicht gegenüber dem gesamten europäischen Judentum, denn sie haben dessen Auslöschung verursacht. Übrig geblieben ist nur noch ein Restbestand, ein entwurzelter Restbestand in den sowjetischen Gebieten, die die Deutschen nicht besetzen konnten. Und die Sowjetunion ist, soweit es sich überblicken läßt, das einzige Gebiet, in dem dieses übriggebliebene Judentum bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist.
Zur historischen Verantwortung bekennen
Das deutsche Volk muß sich jetzt zu der historischen Verantwortung bekennen, von der es doch immer spricht. Notwendig ist die ernste Bereitschaft, zu teilen. Bis heute haben die Deutschen doch die ganze Wiedergutmachung immer nur auf der Geldschiene abgewickelt. Das hatte seine eigene Wichtigkeit, und es war auch nicht wenig. Aber in meinen Augen ist es unter dem Gesichtspunkt des moralischen Anspruchs zu eng. Ich halte die Integration der aus der UdSSR kommenden Juden in Deutschland für genauso wichtig wie das Entschädigungsgesetz nach 1945, wenn nicht wichtiger, denn es handelt sich hier um die letzten bedrohten Reste des osteuropäischen Judentums.
Sollen in einem Einwanderungsgesetz für Juden aus der UdSSR Einwanderungszahlen festgelegt werden?
Nicht in einem Gesetz, aber in einer Verordnung. In einem Gesetz muß drinstehen, daß sie in einer zumutbaren Zeit hier Wohnsitz nehmen können, rechtlich den Deutschen gleichgestellt sind, und daß Deutschland Integrationshilfe leistet. Wichtig ist, daß der Faktor Zeit jeden Tag neu entschieden werden kann. Wächst die Bedrohung in der Sowjetunion, verkürzt sich auch die zumutbare Zeit. In einer Verordnung müssen Zahlen genannt werden, damit die Einwanderung nicht willkürlich gebremst wird. Ich schlage deshalb vor, festzuschreiben, daß ab Sommer nächsten Jahres — denn zu diesem Zeitpunkt wird der deutsche Exodus aus Rumänien weitgehend abgeschlossen sein — die Bundesrepublik mindestens 5.000 Personen monatlich aufnimmt. Das sind 60.000 pro Jahr und in zehn Jahren 600.000. Es ist ganz einfach, zu dieser Zahl zu kommen, ganz abgesehen davon, daß 1933 in Deutschland rund 750.000 Juden lebten. Meine Rechnung sieht so aus, daß von den 1,8 Millionen Juden aus der UdSSR und den 200.000 Juden aus Ungarn in den nächsten zehn Jahren fast alle kommen wollen oder müssen. Wenn ich die erwarteten 1,8 Millionen durch zehn Jahre dividiere, sind das 180.000 Emigranten pro Jahr. Teile ich diese Zahl durch drei Einwanderungsländer, nämlich die USA einschließlich Kanada und Israel, das wirklich nicht mehr in dieser politisch unsicheren Situation aufnehmen kann, dann komme ich auf 60.000 mögliche Einwanderer nach Deutschland.
Wer soll die Einwanderung regeln?
Ein neues, den Ländern übergeordnetes, Bundesverwaltungsamt muß eingerichtet werden. Und mit dieser Arbeit sollte sofort begonnen werden, denn die Einwanderung muß vorbereitet werden. Denkbar ist zum Beispiel, daß schon jetzt in der Sowjetunion deutsche Sprachkurse für Emigranten eingerichtet werden, und daß mit der UdSSR über ein Rentenabkommen geredet wird. In so einem Amt müßten natürlich kompetente Institutionen vertreten sein, meinetwegen auch das Rote Kreuz.
Jedes Bundesland kann initiativ werden
Selbstverständlich müssen auch die jüdischen Gemeinden beteiligt sein, nicht als Glaubensinstitutionen, sondern als Sozialeinrichtungen.
Wie kann ein Einwanderungsgesetz politisch auf den Weg gebracht werden?
Jedes Bundesland, ob Berlin, Hamburg oder Brandenburg, kann ein Gesetz beim Bundesrat vorschlagen. Aber auch jede im Bundestag vertretene Fraktion kann im Bundestag ein Einwanderungsgesetz einbringen. Sie müssen nur den politischen Willen dazu haben. Die jetzt kommenden Menschen sind keine Belastung, denn 60.000 pro Jahr kann Deutschland immer verkraften. Im Gegenteil, wir würden von ihrer Einwanderung profitieren, denn diese Menschen bringen sehr viel ein. Sie sind jung, hoch qualifiziert und in einem ganz erstaunlichen Maße assimilationswillig. Mit ihnen würde, wenn nicht in dieser Generation, dann aber in der nächsten, wieder ein deutsches Judentum anfangen, zu existieren. Und von diesem hat das deutsche Volk sehr viele Vorteile gehabt.
Das Interview führte Anita Kugler
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