Wo sie Honni die Hasen auf die Strecke legten

Die Muster-LPG „Vorwärts“ „stirbt langsam, aber nicht kampflos“/ Im Berlstedter Kombinat waren 1.000 Menschen beschäftigt/ Motto: Gesundschrumpfen und jede einzelne Kuh kennenlernen/ Von 350 Arbeitsplätzen bleiben 135  ■ Von Heide Platen

Thüringen — Niedrige Apfelbäume und verkrümmte Weiden kuscheln sich in die Gräben am Rand der Landstraße zwischen den thüringischen Städten Sömmerda und Weimar. Ungefähr in der Mitte der Strecke liegt Berlstedt, zehn Kilometer nördlich der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. Hier, rund um Berlstedt, lud die Deutsche Demokratische Republik ihre Staatsgäste zur Jagd ein. Dafür wurden in der planierten Einöde der Äcker extra wieder Hecken angepflanzt. Erich Honecker soll, erzählen sich die Einheimischen, ein ganz guter Schütze gewesen sein. Wenn die Strecke trotzdem nicht langte, sei „eben noch der eine oder andere Hase dazugelegt“ worden.

Hier empfing auch der ehemalige „Politische Leiter“ der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) „Vorwärts“ die ausländischen Besucher, um im Regierungsauftrag seine Muster-LPG vorzuführen. Der Mann ist inzwischen aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten. Sein Amt hat der Landwirt Bernd Hucke übernommen, der sich selbst einen „Interims-Vorsitzenden“ nennt.

Bauer Hucke, ein großer, gewichtiger Mann, hat ein schweres Amt übernommen. Er residiert in einer Baracke mit dünnen Steinwänden, dennoch ist sein Chef-Büro durch eine dicke, braune Polstertür nach außen abgeschirmt. Im Flur bietet ein Aushang der Belegschaft Reisen an, über Warnemünde nach Kuba. 1988 erhielt die LPG eine sorgsam gestickte Wanderfahne nebst Urkunde: Für hervorragende Leistungen im sozialistischen Wettbewerb.

4.300 Kühe drängen sich in den engen, äußerlich heruntergekommenen, verwitterten Ställen des ehemaligen Vorzeigebetriebes. Hinein dürfen BesucherInnen da nicht, „aus seuchenpolizeilichen Gründen“. Früher, sagt Bauer Hucke, und meint vor einem Jahr, wäre er „ins Gefängnis gekommen“, hätte er überhaupt jemanden auf das Gelände gelassen. Zum Ausgleich bietet er eine Klettertour über eine winzige, kerzengerade Metalleiter auf eines der insgesamt zwölf riesigen Futtersilos, die je 14.000 Doppelzentner Anwelk- Silage (westdeutsch Gras-Silage) fassen. Ein Blick vom unteren Viertel der Sprossen genügt schon, um einen Überblick über die 5.000 Hektar Wiese zu bekommen.

An die Schwarzbunten Milchrinder (SMR) verfüttert, werden aus dem Gras jährlich 5.000 Kilo Milch (ein Kilo sind 1,03 Liter) mit vier Prozent Fettgehalt — in der BRD sind 3,7 Prozent üblich. Fragen drängen sich nahezu auf: Wenn dies „der“ milchwirtschaftliche Musterbetrieb der DDR war, wie mögen dann erst andere aussehen? „Vorwärts“ ist einer der größten Betriebe in der DDR und, so Bernd Hucke, „im Prinzip ein Monster, bedauerlicherweise“.

Geheizt wird mit jenen braunschwarzen Haufen, die am Fuße der Silos aufgeschüttet sind, Braunkohlengrus. Hucke schüttelt sich regelrecht. Aus den krümeligen Bergen lugen feuchte, verrottete Holzstücke heraus: „Der reine Mutterboden! Früher haben wir mit Öl geheizt. Das wurde 1983 eingespart.“ Der Winter steht bevor, „und wie wir die Ställe dann warm kriegen, das weiß ich auch nicht.“

West-Bio-Eier gehen weg wie warme Semmeln

Die Absatzschwierigkeiten, in die die heimischen LPGs urplötzlich geraten sind, empören den Landwirt sichtlich. Dazu gehört, daß die EG- Milchquote jeden Liter zuviel „bestraft“. Das ist ihm, der in der DDR gelernt hat, die Quoten immer höher zu treiben, neu. Nicht umsonst schließlich hieß dies ganz offiziell „Landwirtschaftliche Industrielle Produktion“. Während sich jenseits der gehabten Grenze noch jeder Großmäster Bauer oder wenigstens verschämt Hühner-Farmer nennen läßt, waren die LPGler stolz darauf, vom Mistgabel-Image ohne Urlaubsanspruch zum volkswirtschaftlich hochgelobten Industriezweig aufzusteigen. Zu ihren neuen, ihre Identität erschütternden Erfahrungen gehört auch das Kaufverhalten der Thüringer. Auf dem Erfurter Domplatz, berichtet Benrd Hucke voller Empörung über solchen Reibach, hätten BRDler „Bio-Eier“ angeboten, „das Stück für eine Mark!“. Und, fügt er, hilflos zornig, hinzu: „Die Leute haben die wie wild gekauft!“

In der Erfurter Innenstadt kann es einen DDR-Landwirt derzeit in der Tat grausen. Da kämpfen die LPGs mit kleinen Ständen gegen die neuen Supermarkt-Lieferanten aus dem Westen an und haben kaum eine Chance. Direktvermarktung hieß das Zauberwort, das sie wie einen Strohhalm aus dem Westen aufgegriffen hatten. 9.000 Hühner habe sie, sagt die Eierfrau aus Hüttelstedt und räumt am Abend resigniert den größten Teil der Ware wieder zusammen. Allein die Eierkartons seien für sie „kaum noch bezahlbar“: „Wer kauft heute noch Eier in der Papiertüte?“ Zwei Straßen weiter schüttelt ein Kunde vor dem Gemüsestand den Kopf. Er hätte seine Kartoffeln eben lieber „ohne Dreck“, frisch gewaschen, blank und goldgelb, „daß sie einen so richtig anlachen“. Das haben die Gemüseproduzenten hierzulande nicht zu bieten. Die Möhren, die sie auf dem Anger, direkt vor dem Kaufhaus Centrum, auslegen, sind sandig, ungleichmäßig groß und knorzig. Über Nitrat weiß hier niemand etwas. Und gekauft wird sowieso anderswo. Im Supermarkt.

Das trifft auch die „Vorwärts“- Leute. Bis zum 30. Juni lieferte die LPG täglich 62.000 Kilo Milch an den Erfurter Milchhof, jetzt sind es nur noch 49.000. In einer Woche habe er, erzählt Bernd Hucke, in einer verzweifelten Aktion „über 600 Kühe trockengestellt“, das heißt, daßihre Futterration verkleinert wurde und die Tiere weniger gemolken wurden. Für ein Kilo Milch erziele er derzeit einen Preis von 59,9 Pfennig, während der BRD-Bauer 70 bis 80 Pfennig gezahlt bekomme. Auch der Fleischabsatz sei drastisch zurückgegangen. Seit dem 1. Juli sei er in der DDR „keine einzige Kuh mehr losgeworden“. Ein herber Schlag. Bis zum 9. November sei schließlich die Landwirtschaft „das einzige gewesen, was überhaupt noch funktioniert hat“.

Zum Thema „Leukose“ äußert er sich eher verschwommen. Er hält diese Krankheit, „das gleiche wie beim Menschen Anämie“, nicht für gefährlich. Seine LPG hat Kälber an bundesdeutsche Viehhändler verkauft und sich zusichern lassen, daß diese als Schlacht- und nicht als Milch- oder Mastvieh erworben worden sind. Irgendwo müssen die 400 bis 500 monatlich „lebend geborenen Kälber“ schließlich hin. Bernd Hucke blickt in eine düstere Zukunft. Das aber tut er wildentschlossen: „Wir werden zwar langsam sterben, aber nicht kampflos!“

Gesundschrumpfen und Friesen einzüchten

Zum Berlstedter Kombinat gehören außer den Kühen drei weitere Betriebe. „Die Pflanze“ baut vor allem Weizen, Zuckerrüben, Gemüsesaat und fast das gesamte Rinderfutter an. Außerdem ist der Ort noch mit 30.000 Schweinen und 200.000 Legehennen geschlagen. Vor ein paar Monaten waren in den vier Betrieben rund 1.000 Menschen beschäftigt. Bei Hucke sind schon 150 entlassen, von den restlichen 200 sollen mit der Zeit noch etwa 135 gehen. Das Konzept lautet: „Gesundschrumpfen“ und dann alles in einer Art „Holding“ mit vier GmbHs zusammenfassen. Die GmbHs können dann Pachtverträge mit den ehemaligen Landeigentümern und deren Erben abschließen. Zur Beratung haben die LPGler Steuer- und Rechtsexperten aus dem Westen engagiert. Hucke stellt sich in seinen derzeit besten Träumen eine Herde von rund 1.800 Kühen „in Gruppenhaltung“ vor. Dann könne man sich wieder die Mühe machen, „auf jedes Tier einzeln“ einzugehen: „Die Leute müssen jede Kuh kennen.“ Die Tiere wie bisher zu halten, das lehnt er als veraltet ab. „Anbinden können Sie heute keine Kuh mehr.“ Drei Standbeine soll die LPG nach seinen Plänen haben: Milch, Mast und Kälberzucht. Dazu soll auch eine „Stammherde“ von 230 Kühen gehören, die Bullenkälber für Besamungsstationen zur Welt bringen sollen. In die will er „Friesen“ einzüchten. Die bisher gehaltene DDR-Standardkuh SMR war eine Kreuzung aus einheimischen Schwarzbunten, Dänischen Jersey und Kanadischen Friesen. Das ganze werde wohl zehn Jahre dauern.

Auf die heiklen Fragen zum Thema „Gülle“ ist die LPG vorbereitet. Die werde bisher fast vollständig vom benachbarten Pflanzbaubetrieb verbraucht. Und bei Eis und Schnee? Über den Winter stehen 90.000 Kubikmeter Lagerraum zur Verfügung. Er präsentiert die riesigen, betonierten Güllewannen mit Stolz. Seine Hoffnung auf die Zukunft. Schließlich wurde in dieser Muster-LPG mehr Beton vergossen, als wahrscheinlich jahrelang im ganzen Bezirk zu haben war. Die unteren Ränder der Behälter wirken allerdings schon reichlich ausgefranst und wenig dicht, die seitlichen Auffangrinnen eher provisorisch. „Wir sind noch nicht so weit wie im Westen“, sagt der LPG-Leiter immer wieder selbstkritisch — und wie eine eingeübte Beschwörungsformel. Die Mißstände zu sehen und laut zu benennen, das ist für ihn schon eine Veränderung, die auch Kraft kostet. Er stellt sich im verkleinerten Betrieb zur Musterherde einfach schon mal eine moderne Drainage vor.