: Unangemessener Kleinmut
■ betr.: "Verfassungsreformismus - nein danke", Kommentar von Götz Aly, taz vom 10.10.90
betr.: „Verfassungsreformismus — nein danke“, Kommentar von Götz Aly, taz vom 10.10.90
[...] Klar, es ist nicht auszuschließen, daß bei der anstehenden Verfassungsreform in Einzelfragen auch Verschlechterungen herauskommen können, politische Bemühungen ohne Risiko gibt es halt nicht. Aber wenn nach den Wahlen am 2. Dezember eine Mehrheit im Bundestag für solche Rückschritte (zum Beispiel Einschränkungen des Asylrechts oder militärischer Einsatz der Bundeswehr in Krisengebieten) möglich ist, dann wird sie vermutlich ohnehin genutzt werden.
Doch die von der demokratischen Bewegung angestrebte Überholung der Verfassung mit dem Ziel der Demokratisierung des neuen Deutschland hat sich ja gerade zum Ziel gesetzt, diese Reform nicht den Parlamentariern zu überlassen, sondern nach einer breiten Diskussion in der Bevölkerung die Bürgerinnen und Bürger entscheiden zu lassen. Warum sollte der vom Runden Tisch in der ehemaligen DDR erarbeitete Entwurf da keine Berücksichtigung finden? Warum sollte es der demokratischen Bewegung nicht möglich sein, Alternativen zur Abstimmung zur bringen?
Die Tatsache, daß es einen Volksentscheid über die neue Verfassung geben soll, hat bereits einen kaum zu überschätzenden Wert an sich: Die Volksabstimmung über politische Fragen von zentraler Bedeutung in der Verfassung endlich zu verankern, ist ja eines der Hauptziele der angestrebten Reform. Wenn aber Konsens darüber besteht, daß die neue Verfassung über einen Volksentscheid in Kraft gesetzt werden soll, wird der Argumentation gegen die Verankerung dieses Instrumentes in der Verfassung der Boden entzogen.
Inzwischen gibt es durch die jahrelang erhobene Forderung nach dieser Möglichkeit direkter Demokratie seitens Bürgerinitiativen und großen Teilen der sozialen Bewegungen und der darauf basierenden Kampagnen der „Aktion Volksentscheid“ und der Gesetzentwürfe der Grünen eine immer breiter werdende Akzeptanz in der politischen Diskussion. Man kann das recht gut an der innerparteilichen Entwicklung der SPD beobachten, bei der immer mehr namhafte VertreterInnen die Einführung des Volksentscheides fordern.
Es wird ja auch höchste Zeit, daß die unangemessene Dominanz der Parteien in der Bundesrepublik, die selbst der Bundespräsident kürzlich angeprangert hat, ein basisdemokratisches Korrektiv enthält! Es steht zu erwarten, daß die anstehende Erarbeitung der Verfassungen in den fünf neuen Bundesländern Ostdeutschlands wie auch die Öffentlichkeitsarbeit des „Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“ Impulse für eine Reform des Grundgesetzes geben wird.
Man kann dies als „blauäugigen Verfassungsreformismus“ abqualifizieren — doch diese Haltung zeugt von unangemessenem Kleinmut wie von Ignoranz gegenüber der Gunst einer historischen Situation. Helmut Horst, Berlin 15
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