: Wer spricht?
Eine Nietzsche-Tagung in Sils-Maria/Schweiz ■ Von Pravu Mazumdar
Aus dem Empire- Salon des Hotel Waldhaus ertönt ein Prélude von Chopin. Wer spielt? Unwillkürlich geht man den Tönen nach. Im Saal sind bereits die Damen und Herren versammelt, in ihren Händen funkeln die Gläser. Am anderen Ende des Saals ist ein Ding auszumachen, das einem Klavier ähnlich sieht, wo aber ist der Spieler? Noch einige Schritte näher, und jetzt sieht man, woher die Töne kommen: von einem rosaroten perforierten Streifen. Es handelt sich um ein elektro-pneumatisches Klavier, die Aufnahme stammt aus dem Jahre 1909. — „Aber wer spielt?“
Hartnäckig bleibt die Frage im Raum stehen, recht so am Beginn eines Kolloquiums, das sich mit der Moralkritik Nietzsches beschäftigen will. Wer spielt? Wer spricht? Wer denkt? Die Frage der Moral ist von Fragen der Täterschaft, von Fragen nach Schuld und Verantwortung nicht zu trennen. Kurz: von der Frage nach einem Subjekt, das denkt, spricht, handelt... und spielt.
Kann man noch solche Fragen in einer Zeit globaler Herausforderungen stellen, da die Maßstäbe selbst in Frage stehen und die vertrauten Gründe moralischer Verbindlichkeit sich vervielfältigen? Darauf Nietzsches Antwort: Man muß aufhören, nach Gründen zu suchen, man muß den Blick auf die Oberflächen lenken. Der Philosoph dieses neuen Blickes müßte Künstler sein, sein Leben ein Kunstwerk. Wilhelm Schmid (Berlin) präsentierte Nietzsches Konzept einer Lebenskunst anhand der polemischen Doppelbödigkeit einer Lektüre, die sich zwischen Nietzsche und dem französischen Denker Michel Foucault bewegt.
Zwei unterschiedlichen Subjekt- Typen entsprechen zwei unterschiedliche Techniken der Askese. Die genealogische Aufdeckung von Machtbeziehungen hinter der Moral löst das herkömmliche Subjekt zugunsten eines neuen Typs von Subjekt auf, das nicht im voraus feststeht, sondern das zerbrechliche Werk von Taten ist. Der Täter geht als Stil und Stimmigkeit in die Tat selbst ein, die Oberfläche der Tat tritt in Erscheinung, den anderen und sich selbst zum Genuß. Die neue Askese ist nicht von Furcht und Selbstbeschneidung geprägt, sondern von einer Art Selbstgenuß, einer naturhaften Lust an der unendlichen Wiederkunft derselben guten Form, derselben Tat, desselben Lebens. In dem Maße, in dem das Subjekt, ja, das Leben selbst zum Kunstwerk wird, wird die Askese lustbetont und natürlich, askesis im antiken Sinne, als Übung, Übung als unablässiges Arbeiten an sich selbst.
Aber das Leben ist ein Pulverfaß archaischer Gewalten. Vielleicht ist der Lebenskünstler in erster Linie ein Dompteur seiner selbst. Johann Figl aus Wien beschrieb das genealogische Projekt als einen Umgang mit den Gewalten des Vergangenen, deren historische Abfolge in unsere mehrschichtige Gegenwart eingeht. Figl zufolge teilt Nietzsches „Genealogie“ die Geschichte in drei Epochen ein: eine archaische vormoralische, eine moralische, dessen Werk der Staat ist, und eine nachmoralische. Die älteste Gewalt, der instinktgeleitete Freiheitstrieb der archaischen Zeit, ist erst in der Epoche von Moral und Staat in Bedrängnis geraten. Gegenwärtig leben wir die Überwindung der Moral im Zeichen einer nachmoralischen Utopie der Interkulturalität, in welcher der Staat überschritten ist. Wie kann man, fragt Figl mit Nietzsche, die Wurzeln der eigenen Kultur so auslegen, daß sie nicht fesselnd wirken und den Blick für andere Kulturen verdunkeln?
Mit dieser Frage steht Nietzsche allerdings nicht allein. Eine ganze kritische Tradition des abendländischen Denkens seit Kant übt den Umgang mit Wurzeln als eine befreiende Tätigkeit: Das Maß der Befreiung ist vom Maß der Radikalität im Fragen nach den Voraussetzungen bestimmt. Ramona Kraetke (Leipzig) warf ein klärendes Licht in das Dickicht der Auseinandersetzung Nietzsches mit Kant. Auch Nietzsche will die Befreiung von der Tyrannei der „vollendeten“ Tatsachen. Aber er sucht nicht wie Kant die Freiheit in der Tiefe der Intelligibilität, er findet sie vielmehr an der Oberfläche einer Sinnlichkeit, die sich selbst das Maß gibt. Nietzsches „Evangelium des Selbst“ verkündet: Du bist nicht, wofür die dich hältst... sei du selbst!
Schere im Kopf
Nach dem Vortrag von Ramona Kraetke stellt man mit Betroffenheit fest, es sei am Institut für Marxismus-Leninismus in Leipzig offenbar auch Philosophie betrieben worden. Wie stand es nun wirklich mit der Philosophie Nietzsches in der ehemaligen DDR? Dieser Frage konnte man im Rahmen einer Podiumsdiskussion nachgehen mit Vertretern aus Weimar (Goethe-Schiller-Archiv), Halle, Naumburg und Röcken — vier Stationen in Nietzsches unruhigem Wanderleben. Es erwies sich aber als schwierig, den tatsächlichen Grad der geistigen Restriktionen festzustellen, denn, wie mit der Moral, so auch hier: Das Gewissen ist schneller als das Gesetz, die Schere des Zensors befindet sich bald nur noch im Kopf.
Es bestand in der Tat eine recht liberale Archivpolitik in Weimar. Die Nietzsche-Bestände waren für wissenschaftliche Zwecke vorbehaltlos zugänglich. Eine glänzende Bestätigung dafür bietet die gute Zusammenarbeit seinerzeit mit Mazzino Montinari an der Herausgabe von Nietzsches Gesamtwerk. Doch ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Sache Nietzsches generell unter einem diffusen ideologischen Druck stand. Zwischen 1986 und 1988 fand in der DDR eine große Auseinandersetzung statt, bei der sich Wolfgang Harich mit einer kategorischen Zurückweisung Nietzsches hervortat. Seither hat sich freilich auch da einiges verändert: Am 15. November findet in Halle die Gründungsfeier der „Interessengemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V.“ statt.
Die Sprache der Bejahung
Nietzsches Macht zwingt also beständig in die Revolte gegen die Macht der herrschenden Ideologien. Nietzsches eigene Revolte findet aber nicht nur als eine Verneinung der Moral statt, sondern, in ganz elementarer Weise, als die schöpferische Bejahung des Lebens. Gerade das Spiel der „großen Bejahung“ ist ein Dorn im Auge der Moral. Albert Camus sah allerdings — wie Annemarie Pieper (Basel) ausführte — in Nietzsches Philosophie der Bejahung, ausgedrückt in den Bildern des Übermenschen und des spielenden Kindes, einen Verrat an der genealogischen Revolte. Vielleicht aber läuft eine derartige Trennung von Spiel und Revolte auf eine präzise Umgehung der beunruhigenden Kraft der Bejahung hinaus. Eine andere Form der Umgehung läge in dem Versuch, die Bejahung selbst prinzipienfest zu machen. Volker Gerhardt (Köln) legt mit einer berückenden Prägnanz Nietzsches Moralkritik in fünf Einwände auseinander, aus denen er daraufhin fünf Prinzipien einer neuen Moral herausholte. Doch einer Moralkritik, die wiederum in einer Moral endet, gebührt ein philosophisches Lachen.
Was Gerhardt herauspräpariert, sind Fäden, die in einen textuellen Stoff mit einiger Sorgfalt hineingearbeitet sind. Aus dem Gewebe allein beziehen sie ihre Kraft. Doch fand im gesamten Verlauf der Tagung die Frage der gegenseitigen Verschränkung von Sprache und Moral, ein eminent wichtiger Topos bei Nietzsche, wenig Beachtung. Den einzigen Hinweis auf die Materialität von Nietzsches sprachlichen Unternehmungen brachte — wer sonst? — ein Antiquar. Albi Rosenthal (Oxford) zeigt Lichtbilder von Nietzsches Handschrift aus verschiedenen Lebensabschnitten des Philosophen. Das letzte Beispiel stammte aus dem Jahre 1889 aus der Nervenklinik zu Jena, in die Nietzsche eben eingeliefert worden war. Der grauenerregende Anblick einer explodierten graphologischen Ordnung mit ihren auseinanderstiebenden Buchstaben und Notenschlüsseln war eine kleine philosophische Belehrung.
Damit sind aber von neuem die Fragen da. Wer spricht? Welcher Stil der Auseinandersetzung hat sich hier angekündigt? Was heißt es, daß während der ganzen Rede über die Ethik die Ethik der Rede unter den Tisch fällt? Was heißt es, daß über die beredte Beschäftigung mit Nietzsches Ethik Nietzsches Philologie in Vergessenheit gerät? Unter welchen Bedingungen kann dafür gesorgt sein, daß die Lebenskunst einmal als Redekunst in Erscheinung tritt?
Wir beschließen, inmitten dieser Fragen stehen zu bleiben.
Das Nietzsche-Kolloquium in Sils- Maria fand vom 27. bis 30. September statt
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