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Die Wirklichkeit übertreibt

■ Sabine Kebir führte mit dem algerischen Schriftsteller Rachid Mimouni ein Gespräch über seinen Roman 'Tombéza‘, die Frauenfrage und die algerische Literatur

Kebir: „Tombéza“ zeigt ein schockierendes Bild des Landes, das nicht nur von Mangel, sondern auch von Korruption, Vetternwirtschaft und zerstörerischen zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt ist. Haben Sie Extreme oder den Alltag aufzeigen wollen?

Mimouni: Als die Leute „Tombéza“ gelesen haben, besonders hier, in Europa, gab es die Tendenz zu sagen, Rachid Mimouni übertreibt. Er zeigt eine Gesellschaft in sehr schwarzen Tönen. Aber die Algerier, die das Buch gelesen haben, haben niemals gesagt, daß ich übertreibe. Es gibt einen Satz in diesem Roman, der sagt: „Nicht ich bin es, der übertreibt, es ist die Wirklichkeit, die übertreibt.“ Und ich glaube, daß gerade die Oktoberrevolte 1988 die negativen Aspekte des Lebens in Algerien an den Tag gebracht hat, die mehr oder weniger von einem Diskurs versteckt waren, der sich progressiv gab. Versteckt auch von einem Medienapparat, der das Leben immer rosarot gezeigt hat.

Wie fast alle Romanfiguren ist Tombéza Opfer und Täter zugleich, ein Zeichen dafür, daß es sich um eine Wolfsgesellschaft handelt, in der man nur überlebt, wenn man selber Wolf sein kann. Es gibt zwei Personen, die allein Opfer sind: Tombézas Mutter und seine Frau. Sie werden nicht nur sexuell gedemütigt. Sind auch sie Symbole für einen noch immer nicht erneuerten Alltag?

Es gibt ein sehr großes Frauenproblem in Algerien. In dieser kriminellen Gesellschaft, die ich in „Tombéza“ beschreibe, sind in der Tat alle Werte der Solidarität verschwunden. Bei den Männern kommen alle schlechten Instinkte hoch, sie benehmen sich wie Wölfe. Es herrscht also das Gesetz des Dschungels. Und die ersten Opfer — die selbst keine Henker sein können — sind die Frauen. Auf den Frauen liegt das Gewicht des Islam, eines verknöcherten Islam, der will, daß ihre Rolle in der Gesellschaft auf ein niedrigeres Niveau als das der Männer zurückgeschraubt ist. In diesem Typ von Gesellschaft sind sie ganz offensichtlich die ersten Opfer des Bösen. Seit den Oktoberunruhen, der kleinen demokratische Öffnung, haben die Frauen zumindest die Chance, gewisse Rechte einzufordern. Es gibt heute viele Frauenorganisationen, die im Grunde alle dasselbe verlangen — nämlich den wichtigsten Punkt, die Gleichheit vor dem Gesetz. Es darf keine Diskriminierung mehr auf der Basis des Geschlechts geben.

Das Gesetz gibt den Frauen bislang nicht dieselben Rechte wie den Männern?

Nein. Seit 1982 haben wir ein Statut — den „Code de la famille“ — welches das Verhältnis zwischen Mann und Frau regelt. Die Frau hat hier nicht dieselben Rechte wie der Mann, sie ist in eine permanente Inferioritätsposition gedrängt. Solange sie nicht volljährig ist, steht sie unter der Vormundschaft ihres Vaters. Und wenn sie volljährig ist, gerät sie unter die Vormundschaft ihres Ehemannes. Wenn sie nicht verheiratet ist, bleibt sie unter der Vormundschaft ihres Vaters. Anders ausgedrückt — sie hat immer einen Vormund, der für sie entscheidet. Es gibt viele Einzelartikel dieses Gesetzes, die sehr klare Unterschiede zwischen den Rechten der Frau und den Rechten des Mannes ziehen. Es ist kein gleiches Recht.

Dann gibt es noch das Problem des Gewohnheitsrechts und des islamischen Rechts. Das Gewohnheitsrecht ist aus einer Adaptation des muselmanischen Rechts hervorgegangen. Eines der großen Probleme des muselmanischen Rechts besteht darin, daß es keine Möglichkeit der Adoption gibt. Die Adoption ist im Islam verboten. Gewohnheitsrecht, besonders hier in Algerien will, daß das Kind, das nach einer Vergewaltigung oder einem Ehebruch geboren wird, aus der Gesellschaft ganz ausgeschlossen ist. In der Konsequenz wird es sein ganzes Leben als Marginalisierter leben, es wird einen unauslöschbaren Makel tragen — was der Fall Tombézas ist, er ist infolge einer Vergewaltigung geboren. Er wird von der traditionellen Gesellschaft, in der er lebt, vollkommen abgelehnt. Man verbietet ihm sogar den Zugang zur Moschee. Er will lernen wie die anderen kleinen Kinder, aber man schickt ihn weg, man wirft Steine nach ihm, man verfolgt ihn usw. Das Gewohnheitsrecht in den traditionellen Gesellschaften hat auch das Recht der Frau sehr eingeschränkt. Das Gewohnheitsrecht ist heute um so mehr veraltet, weil die algerische Gesellschaft sich trotz allem sehr entwickelt hat. Heute leben ungefähr 50 Prozent der Bevölkerung in den Städten, das heißt in einer materiellen und geistigen Situation, die sehr verschieden ist von der traditionellen Gesellschaft. Und es gibt daher ständig eine Verknüpfung von Widersprüchen, die zwischen diesem Recht und dem modernen Recht gelebt werden. Die Situation des Gewohnheitsrechts ist besonders kompliziert, weil es von einer Region zur anderen verschieden ist. Der Islam bestimmt zum Beispiel, daß die Frau die Hälfte des Teils erbt, das der Mann bekommt. Das ist schon eine Ungleichheit — eigentlich ist nicht einzusehen, warum die Frau nur die Hälfte erben soll — aber in einigen Regionen Algeriens besteht sogar ein Recht, nach dem die Frau überhaupt nicht erben kann.

Die Mißstände, die Sie aufzeigen, sind nicht ausdrücklich als Erbe des Kolonialismus aufzufassen. Während man in Frankreich ihre Bücher hochschätzt, wird in Algerien öfter gesagt, daß Sie ein zu schwarzes Bild entwerfen. Gibt es noch eine Scheu, die eigene Kultur schonungslos, quasi unverschleiert zu betrachten?

Sicher kann die Behauptung, daß die Probleme Algeriens aus dem Kolonialismus rühren, nicht aufrecht erhalten werden. Wir sind heute seit mehr als 26 Jahren unabhängig, das ist eine sehr lange Periode. Es gibt eine ganze Reihe von Problemen, die in der algerischen Gesellschaft, im unabhängigen Staat entstanden sind. Das politische System hat lange Zeit diese Realität versteckt. In den Medien wurde Algerien rosarot gezeichnet. Ich glaube, daß der Oktober letztlich für viele Leute eine Art Schock provoziert hat, der nun eine klarere Sicht erlaubt. Sie haben ihre Augen für die Realität geöffnet, um sie nun zu sehen, wie sie ist. Ich glaube, daß vorher etwas im Innern, im Sein, im Geist der Algerier steckte, das sie dazu brachte, die Makel der Gesellschaft zwar richtig zu konstatieren, weil das ihr tägliches Leben war, aber ihr Wissen zurückzuhalten. Sie wollten nicht, daß es ans Tageslicht kam. Und plötzlich hat der Oktober — als die Leute auf die Straße gegangen sind, als die Armee auf die Leute geschossen hat usw. usw. — bewußt gemacht, daß es da sehr, sehr schwere Probleme gab. Und ich denke, daß daran nie mehr irgendeine Macht in Algerien etwas ändern kann, daß sich die Leute seit Oktober 1988 sehr frei über die Probleme äußern, die sie in der Gesellschaft erleben. Diese schwarzen Aspekte des Lebens, die früher versteckt waren, kommen nun überall hervor — in den Universitäten, in den Betrieben, in den Ämtern, sogar auf der Straße sprechen die Leute viel freier miteinander. Und die Medien erleben also jetzt eine Aufarbeitung der Schulden gegenüber den Problemen der Gesellschaft.

Wie ist die Editionspolitik in Algerien und in den anderen arabischen Ländern? Welche Chancen, welche Schwierigkeiten hatte ein kritischer Autor wie Sie in seinem Land bzw. in der arabischen Welt überhaupt?

„Tombéza“ konnte in der Zeit, als ich den Roman geschrieben hatte, nicht erscheinen. Man hielt ihn in Algerien für zu kritisch, für zu streitbar. Deshalb habe ich ihn in Frankreich publiziert. Eine Reihe von Jahren blieb er in Algerien praktisch verboten. Das heißt, es hat keine Verlautbarung gegeben, daß das Buch verboten ist, aber es wurde nicht importiert. Schließlich hat ein privater Unternehmer die Rechte gekauft, um den Roman zu drucken. So ist das Buch auf den Markt gekommen. Mein Fall ist ein bißchen ungewöhnlich. Ich habe zunächst zwei Romane bei einem algerischen Verleger publiziert. Der erste ist ohne große Probleme über die Bühne gegangen, der zweite ist sehr stark zensiert worden. Das habe ich dann im Ausland publiziert.

Und was die Kulturpolitik betrifft: Ich glaube, daß man versucht hat, die Edition in Algerien zu administrieren. Es gab einen einzigen Verleger, ein staatliches Unternehmen, das quasi allein dastand. Dieses Unternehmen funktionierte auf sehr bürokratische und schwerfällige Weise. Die Bücher, die es herausbrachte, mußten der politischen Linie des an der Macht befindlichen Regimes entsprechen. Darüber hinaus gab es die Probleme der persönlichen Strategien. Das heißt, man publizierte zum einen die Autoren, die dem Regime Lobeshymnen sangen, und zum anderen die Freunde — die so zu Geld kommen konnten. Das war die Editionspolitik während sehr langer Zeit. Das hat so schlecht funktioniert, daß sogar die Anzahl der herausgebrachten Bücher im Verhältnis zur Kapazität dieses Hauses sehr klein war. Wenn ich mich recht erinnere, so hat es in 20 Jahren 250 literarische Titel gebracht — Romane, Novellen, Gedichtbände — in den zwei Sprachen Arabisch und Französisch.

Gab es für Schriftsteller wie Sie nicht die Möglichkeit, in einem anderen arabischen Land zu publizieren?

Ja, das geschieht. Ein Teil der maghrebinischen Schriftsteller schreibt in Französisch. Und diese Autoren lassen — wenn sie zu Hause nicht veröffentlichen können — ihre Werke in Frankreich publizieren, weil sie in der Sprache dieses Landes schreiben. Und die Arabisch schreibenden Autoren gehen, wenn sie dieses Problem haben, in die arabischen Länder, nach Syrien, in den Libanon, nach Ägypten. Wenn sich dieses Phänomen fortsetzt, riskieren wir eine Situation, in der die algerische Literatur zwar existiert, aber im Ausland.

Ist nach dem Oktober 1988 eine Veränderung für die Schriftsteller in Bezug auf die Editionspolitik spürbar?

Ich glaube schon. Im Moment stellt sich das Problem anders. Es gibt nun plötzlich die Möglichkeit, private Verlagshäuser zu gründen in der Form von Kooperativen oder Assoziationen. Man kann ohnehin nicht auf diesen staatlichen Verlag zählen, weil er derartige Organisationsprobleme hat, daß er nicht mehr normal funktionieren kann. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Normalerweise müßte er aufgelöst werden.

Ein großer Teil des jungen Publikums in Algerien liest heute besser Arabisch als Französisch. Werden Ihre Bücher ins Arabische übersetzt?

Da gibt es zunächst ein Paradox zu konstatieren, das ich mir selbst niemals erklären konnte. Algerien ist in der Tat ein Land, das seit mehr als 25 Jahren unabhängig ist. Der Unterricht wird vorwiegend in Arabisch erteilt. Heute ist festzustellen, daß nach 25 Jahren Arabischuntericht die Leserschaft, die in Französisch liest, beachtlich zahlreicher ist als die Leserschaft, die in Arabisch liest. Das ist ein Mysterium. Wenn man sich zum Beispiel die zwei Tageszeitungen vornimmt, die in Französich gedruckt werden — der 'Moudjahid‘ und 'Horizont 2000‘ —, so liegt ihre Auflage zusammen bei etwa 600.000 Exemplaren. Alle Zeitschriften in Arabisch erreichen nicht einmal 150.000 Exemplare. Bücher in französischer Sprache verkaufen sich doppelt so gut. Und das nicht etwa, weil sie besser wären — ich spreche hier nicht von Qualität —, sondern weil die Leserschaft mindestens doppelt so groß ist. Das heißt, daß die Französisch schreibenden Autoren trotz allem ein Publikum behalten. Bei „Tombéza“ gab es tatsächlich ein Übersetzungsproblem. Das Problem eines Schriftstellers ist möglicherweise, daß sein Buch in fünf oder sechs Sprachen erscheint — „Tombéza“ wurde gerade ins Deutsche Übersetzt —, aber nicht ins Arabische, das immerhin unsere Muttersprache ist, die Nationalsprache des Landes. Nun gibt es glücklicherweise eine Übersetzung ins Arabische, die wird, wenn alles gut geht, in einigen Monaten erscheinen.

„Tombéza“ ist im Verlag Pahl-Rugenstein erschienen.

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