: »Wer am Sonntag nicht wählt, haßt Berlin«
■ Heute vor 44 Jahren, am 20. Oktober 1946, wählten die BerlinerInnen zum letzten Mal gemeinsam ein Landesparlament
Berlin. »In einer Woche ist es soweit. Wir haben vierzehn Jahre darauf gewartet. [...] Berlin wählt. [...] Diese Wahl hat eine Bedeutung, die man kaum überschätzen kann. Die Welt blickt nach Berlin, denn sie weiß, daß am kommenden Sonntag ein großer Teil des Schicksals von ganz Deutschland entschieden wird.« ('Tagesspiegel‘, 13. Oktober 1946). — Berlin im Nachkriegsherbst 1946, zerstört, ausgebombt; der Winter, der der härteste der Nachkriegszeit werden sollte, stand vor der Tür. Die von den Alliierten zugelassenen Zeitungen spiegeln die Probleme der Menschen wieder, meldeten, wo man Kohle und Lebensmittelkarten abholen konnte. Aber nicht nur Lebenshilfe gab es zu lesen, die deutsche und die Berlinfrage füllten Seite um Seite: Vor allem der kurz nach Kriegsende zugelassene 'Tagesspiegel‘ machte eine breite Vorberichterstattung zu den ersten freien Wahlen in Berlin, die nach dem Krieg stattfanden. Am 20. Oktober 1946 sollten gut zwei Millionen BerlinerInnen eine neue Stadtverordnetenversammlung und auch neue Bezirksparlamente wählen. Ein historisches Datum, denn diese Wahl stellte sich bald schon wieder als die letzte für Jahrzehnte heraus. Zuletzt hatten die BerlinerInnen am 12. März 1933 ein demokratisches Parlament gewählt, das nächste Mal am 2. Dezember 1990.
Schon während der Konferenz von Potsdam waren sich die vier Siegermächte einig geworden, daß in Deutschland die lokale Selbstverwaltung nach demokratischen Grundsätzen möglichst bald wiederhergestellt werden sollte und Wahlen dazu abgehalten werden sollten. Der erste russische Stadtkommandant, der bis zum Eintreffen der Westmächte für die ganze Stadt verantwortlich war, hatte einen vorläufigen Magistrat und Bezirksverwaltungen eingesetzt. Zwischen den Bezirken herrschte kaum Absprache, das Durcheinander in der Stadt vergrößerte sich dementsprechend. Ende Juni 1946 endlich teilte die Alliierte Kommadantur dem Magistrat mit, daß als Wahltag der 20. Oktober beschlossen worden sei.
Die Kommentatoren des 'Tagesspiegels‘, die sich dem Aufbau der Demokratie sehr verpflichtet fühlten, hatten wohl ein wenig Angst, daß die BerlinerInnen den Ernst der Stunde nicht begreifen würden, und mahnten die Bevölkerung unablässig, ihre Stimme abzugeben. »Wer nicht wählt oder einen ungültigen Stimmzettel abgibt, der haßt Berlin«, warnte die Zeitung. Zur Wahl standen vier Parteien: die SPD unter Franz Neumann, die CDU unter Jakob Kaiser, die Liberalen und die SEP, die Sozialistische Einheitspartei — und spätere SED — unter Max Fechner. Nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD im östlichen Deutschland war vor allem die Frage interessant, wie stark die SEP im ehemaligen roten Berlin werden könnte. Die großen Kampagnen scheinen ihre Wirkung getan zu haben: Die BerlinerInnen gingen heute vor 44 Jahren brav zur Wahl und gaben in der großen Mehrzahl den Sozialdemokraten ihre Stimme. Die SPD erhielt knapp 49 Prozent, die CDU 22, die SEP kam mit knapp 20 Prozent nur an die dritte Stelle, gefolgt von den Liberalen mit neun Prozent der Stimmen. Für die Zusammensetzung des neuen Magistrats hatte die Wahl kaum Bedeutung, denn nach der vorläufigen Verfassung mußten alle Parteien berücksichtigt werden, die dies wünschten. Nach langen und zähen Verhandlungen wurde der Sozialdemokrat Otto Ostrowski der erste gewählte Oberbürgermeister von Berlin nach dem Krieg — 1947 abgelöst von Ernst Reuter. Bis zur Spaltung der Stadt tagte der Magistrat im Stadthaus am Molkenmarkt, die Stadtverordnetenversammlung unter ihrem Vorsteher Otto Suhr im Roten Rathaus. Am 2. Dezember wählen die BerlinerInnen zum dritten Mal in knapp 60 Jahren ein freies, gemeinsames Parlament. Kordula Doerfler
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