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Mit den Augen eines Holzwurms

■ „Die Geschichte der Welt in 101/2 Kapiteln“ von Julian Barnes

Zehntausend Marabotino für den, der als erster die Küste Indiens sichtet“, hatten Ferdinand II. und Isabella von Spanien der Mannschaft von Christoph Kolumbus versprochen. Ein gemeiner Matrose erspähte eines Morgens die Gestade der Neuen Welt und erwarb sich damit das Anrecht auf diesen Reichtum. Doch kurz nachdem Kolumbus am 15. März des Jahres 1493 wieder im spanischen Hafen von Palos eingelaufen war, verlangte der frisch ernannte „Vizekönig der Neuen Welt“ die ausgesetzte Belohnung für sich selbst. Der enttäuschte Matrose verließ Spanien und ward nie wieder gesehen.

In seinem Buch Eine Geschichte der Welt in 101/2 Kapiteln schreibt Julian Barnes: „Geschichte ist nicht das, was geschah. Geschichte ist, was die Historiker zur Geschichte machen.“ Sie spüren Zusammenhänge auf, sehen hier eine Bewegung, dort eine Entwicklung, interpretieren dieses als Fortschritt, jenes als Rückfall in die Barbarei. Doch eigentlich sei die Geschichte der Welt, so argumentiert Julian Barnes, „nur das Echo einiger Stimmen in der Dunkelheit; Bilder, die für die Dauer einiger Jahrhunderte hell auflodern und dann verglimmen; Geschichten, alte Geschichten, die sich manchmal überschneiden und überraschende oder belanglose Verbindungen unter den Dingen knüpfen.“

Fast jeder kennt das Phänomen, daß man, will man über weite Entfernungen hin etwas schärfer erfassen, sein Augenmerk nicht auf die Gestalt am Horizont richtet, sondern den Blick leicht diesseits oder jenseits vom Mittelpunkt seines Interesses konzentriert. Wer also heute etwas über Kolumbus wissen will, sieht deutlicher über den Zeitraum von beinahe 500 Jahren hinweg, wenn er nach dem betrogenen Matrosen und nicht so sehr nach dem großen Admiral Ausschau hält.

Mit diesem einfachen Trick öffnen sich für viele alte Geschichten ganz überraschende Perspektiven. Jeder erinnert sich doch zum Beispiel an die Geschichte von der Arche und dem gerechten Noah, der seine Familie und die Tiere vor der Sintflut rettete. Aber aus dem Mund des blinden Passagiers der Arche klingt dieselbe Geschichte gleich ganz anders. Er fragt sich nämlich, warum Noah, wenn er denn wirklich so gerecht war, wie es immer heißt, jeweils sieben Pärchen vom reinen Getier mit auf die Arche nahm, von dem unreinen aber jeweils nur eines? Und warum hat er ihm, dem blinden Passagier, erst gar keinen Platz auf der Arche angeboten? Hat Noah etwa, statt gerecht zu handeln, das Volk der Anobii Domestica, die der Volksmund auch unter dem schlichten Namen Holzwürmer kennt, aus bloß persönlicher Abneigung heraus dem Tode durch Ertrinken aussetzen wollen? Verborgen im Gebälk der Arche jedenfalls lesen wir mit den kritischen Augen des Holzwurmes eine neue Geschichte aus einem alten Text.

Das Buch von der Geschichte der Welt enthält viele solcher Geschichten. Der Erzähler Julian Barnes schüttelt sie aus seinem Ärmel wie eine endlose Kette bunter Seidentücher. Jedes neue Kapitel fügt der Geschichte der Welt einen anderen Farbtupfer hinzu. Nach der Arche Noah finden wir uns auf einer Kreuzfahrt durch die Adria einer Handvoll arabischer Terroristen gegenüber und müssen den entsetzten Passagieren erklären, warum ihr Tod eine historische Notwendigkeit ist. Dann treiben wir nach der Katastrophe von Tschernobyl in einem Boot auf dem offenen Meer und sind vielleicht die letzten Überlebenden. Ein Advokat im mittelalterlichen Frankreich verteidigt vor Gericht die Unschuld der Holzwürmer, deren Tun zum tragischen Tod des Bischofs von Besancon führte; ihr Ankläger dagegen fordert die Exkommunikation der Übeltäter. Und Miss Fergusson, eine nicht mehr ganz junge Dame, begibt sich zur Zeit der Königin Viktoria mit ihrer Begleiterin auf eine Reise in die Türkei, um auf dem Berge Ararat nach dem Wrack der Arche Noah zu suchen. Doch im Berg Ararat ruht eine starke magnetische Kraft, die jeden Kompaß zu einem nutzlosen Gepäckstück werden läßt. „Man verliert“, sagt Miss Fergusson zu ihrer Begleiterin, „hier oben schnell die Orientierung.“ Miss Fergusson kann das Wrack der Arche nicht entdecken, aber vielleicht hat sie gefunden, wonach sie suchte, als sie an einem Bergabhang zu Tode stürzt. Der Leser bleibt, wie Miss Fergussons Begleiterin, in dem Dilemma zurück, daß es zu jedem Ereignis eben mehr als eine Geschichte gibt.

Die Art, wie Julian Barnes die Geschichten in seinem Buch zusammenstellte, erinnert an die Sammlungen, die sich in den Kuriositätenkabinetten früherer Jahrhunderte anhäuften. Scheinbar kunterbunt durcheinander finden wir auf dem knappen Raum zwischen zwei Buchdeckeln die aberwitzigsten Kombinationen von Personen und Ereignissen. Was, fragt sich der Leser manchmal verzweifelt, hat nur das strahlenverseuchte Rentier mit dem Mann zu tun, der zweimal den Untergang der Titanic überlebte? Wahrscheinlich gar nichts. Aber, wie Miss Fergusson schon deutlich machte, finden sich für jedes Ereignis wenigstens zwei Erklärungen, und für die Verbindung zwischen dem Rentier und dem Überlebenden braucht es schließlich nicht mehr als nur die passende Geschichte.

Aber wenn es keine allgemeingültige Wahrheit, keine letztendliche Version der Geschichte der Menschheit gibt, dann wäre doch jede Geschichte so gut wie eine andere, könnte man jetzt denken. Um diese fatale Lust zu absoluter Relativität gar nicht erst aufkommen zu lassen, hat Julian Barnes den 10 Kapiteln seiner Geschichte der Welt noch ein halbes Kapitel hinzugefügt. In diesem Zwischenstück fragt sich der Autor — sozusagen in Klammern — was diese Welt wohl in ihrem Innersten zusammenhält. Die Antwort ist so alt, daß sie nicht einmal Homer überrascht haben würde, aber sie ist immerhin so neu, daß ich sie an dieser Stelle nicht verraten will.

Julian Barnes ist außerhalb der Grenzen Englands mit seinem Buch Flauberts Papagei bekannt geworden. Nach eher konventionell geschriebenen Romanen wagte er mit diesem Buch eine Art Grenzgang zwischen Literatur und Essayistik, spürte auf ganz neuen Wegen und unter überraschenden Blickwinkeln seinem verehrten Vorbild Flaubert nach. Mit dieser Technik konnte er sein profundes Wissen über die französische Literatur mit seinen eigenen schriftstellerischen Fähigkeiten verbinden. Doch was sich in Flauberts Papagei in wohltuender Balance hielt, stürzt in den 10 1/2 Kapiteln aus dem Gleichgewicht. Kurz, Julian Barnes ist einfach zu klug, er weiß alles über seine Geschichten, er füllt jedes Geheimnis mit Worten, und selbst die Schnittstellen zwischen den Geschichten, die auf einen tieferen Sinnzusammenhang deuten könnten, erinnern nicht an das Unaussprechliche, dem eigentlichen Zentrum einer jeden Geschichte, sondern doch eher an die koketten Allüren eines Autors, der weiß, daß er sein Handwerk beherrscht. Und so hat der Leser keine Chance. Er läßt sich von einem klugen Autor angenehm unterhalten, flaniert durch das Panoptikum eines Bildungsbürgers und liest in 10 1/2 Kapiteln von der Welt des Julian Barnes; doch für seine eigene Welt bleiben diese Geschichten recht bedeutungslos. Bernhard Robben

Julian Barnes: Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln, Haffmans Verlag, Zürich 1990, 363 S., 38 DM.

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