: Perverse Fehlentwicklung
■ betr.: "taz-special: Winter", taz vom 13.10.90
betr.: „taz-special: Winter“,
taz vom 13.10.90
Das Special über den Winter in den bayerischen Bergen war gelungen, das Thema „zu hoher Wildbesatz“ wäre jedoch im Zusammenhang mit der Touristenattraktion Winterfütterung einen eigenen Artikel wert gewesen. Denn an den Futterplätzen wähnt sich mancher Städter der Natur nahe; in Wirklichkeit ist er Zeuge einer perversen Fehlentwicklung, deren Ursache weit in die Geschichte zurückreicht.
Als Privileg des Adels wurde die Jagd einst mehr als Zeitvertreib denn aus Notwendigkeit betrieben und die Raubtierkonkurrenz kurzerhand ausgerottet. Im Spätherbst zogen dann die Wildrudel talwärts und ins Vorland hinaus, das jedoch im Lauf der Zeit immer intensiver landwirtschaftlich genutzt wurde. Den Bauern war jedoch nicht nur das Jagen verboten, vielerorts durften sie nicht einmal das Wild verscheuchen und so mußten sie zusehen, wie abwechselnd Wildschweine, Rotwildrudel und berittene Jagdgesellschaften ihnen Wiesen und Felder zertrampelten. Das ist der Grund, weshalb manch ein Wilderer in Bayern zum Volkshelden wurde.
Später fand das aufkommende Bürgertum Gefallen am Prestigesport Jagd. Bis heute kann die Jägerschaft auf eine einflußreiche Lobby in der bayerischen Politik bauen. Daß Franz-Josef Strauß lodengewandet ins Gras eines fürstlichen Reviers biß, war mitnichten der reine Zufall.
Damals wie heute ist die Trophae das Objekt der Begierde. Zur Tracht, die für jeden honorigen Bayern notwendiger Bestandteil der Garderobe ist, zählt nicht nur der Gamsbart am Hut, sondern auch die Kleintrophäe (Luchszahn) im Charivari an der Uhrkette.
Um die hohen Bestände zu halten und den Konflikt mit der Landwirtschaft auszuräumen, wurde die Winterfütterung eingeführt. Im Laufe der Generationen wurde dadurch das Wild reviertreuter und verlor zumindest zeitweise die Scheu vor dem Menschen. Die „Verhaustierung“ des Rotwilds ist mittlerweile so weit fortgeschritten, daß man es im Alpenvorland schon wie Vieh auf Koppeln hält. Bei der Winterfütterung mischen „wohlmeinende“ Revierpächter heute Futtermittel bei, die für die industrielle Kälberzucht entwickelt wurden. Der Wildbestand in einigen Revieren ist so hoch, daß die Kosten der Wildschäden (die der Steuerzahler trägt) weit höher sind, als so mancher prominente Revierpächter an Pacht entrichtet.
Das ursprüngliche Gleichgewicht zwischen Raub- und Beutetier ist in den Alpen unwiederbringlich zerstört. Der Mensch war bislang nicht willens und in der Lage, die Bestände auf vernünftige Maße zu bringen. Seine Jagdweisen per Gewehr und Zielfernrohr sind nicht selektiv genug; Raubtiere sorgen durch das Ausmerzen von kranken und schwachen Tieren für einen gesunden Restbestand. So sind nicht nur die Bestände zu hoch, sie sind auch kranker als früher.
Der Schutzwald in den bayerischen Bergen ist in vielen Gebieten überaltert. Das Aufkommen von Jungpflanzen wird durch Verbiß verhindert. Im Gegensatz zum Flachland kann die Erosion in den Alpen unter ungünstigen Wetterbedingungen in kürzester Zeit und mit schweren und irreparablen Schäden ablaufen. Einer Studie des Alpenvereins zufolge sind einzelne Ortschaften bereits heute bedroht. Verliert der Schutzwald weiterhin an Wirkung, so müßten noch in diesem Jahrzehnt bei Unwettern ganze Dörfer evakuiert werden. Das zuständige bayerische Ministerium hat auf diese Aussicht erstmals reagiert: In einer Region im Allgäu wurde das Rotwild zum Totalabschuß freigegeben. Volkmar Sommer, München
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