: Es geht nicht ohne Verbrechen
■ Der Ehrenpräsident der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft zum Thema DR. JUR. DR. JUR. ARMAND MERGEN MEINT:
Gesellschaftssysteme sind nicht durch die Zeiten hindurch stabil. Mit ihrer Änderung, sei es durch Evolution oder Revolution, ändern sich die Verbrechensdefinitionen und die Erscheinungsformen des Verbrechens. Es gibt keine Gesellschaft ohne Verbrechen, und es wird eine derartige Gesellschaft nie geben. A. Quetelet hatte dies 1869 ausgesprochen: »Jeder soziale Staat setzt eine gewisse Zahl und eine gewisse Zusammensetzung von Verbrechen voraus, die sich als notwendige Folge aus seiner Organisation ergeben.« [...]
Innerhalb einer jeden Gesellschaft gibt es Minoritäten (ethnische, religiöse, soziale) mit eigenen Normen. Die Migration (Einwanderer, Vertriebene, Gastarbeiter) ist heute ein normal gewordenes Phänomen. Die Menschen begeben sich nicht nur in ein fremdes Land, sondern auch in ein anderes soziales Umfeld. Sie bringen ihre Kultur mit. Es kann zum Kultur- und daraus zum Normenkonflikt kommen. Damit wird die Problematik, welche Entstehung und Realisation von definierten Verbrechen betrifft, um eine Dimension erweitert. Wenn die Normen der Minoritäten mit den Normen der Gesamtgesellschaft in Konflikt stehen, wird in einem freiheitlichen Staat mit pluralistischer Wertordnung bei Kriminalisierung zwischen dem Recht auf Freiheit und dem Verbot zu schaden abzuwägen sein. [...]
Es gibt keinen Konsens über einen zu allen Zeiten in allen Kulturen und Subkulturen inhaltlich absoluten Verbrechensbegriff. Verbrechen ist relativ zur Gesellschaft, in der es geschieht; es wird einerseits von den sozialen Hierarchie-, Macht- und Wertestrukturen bestimmt; andererseits hat es eine bestimmte Wirkung auf die Gesellschaft, in der es geschieht. Jedes Verbrechen, das geschieht, ist eine Herausforderung an die Gesellschaft. Jedes Verbrechen verlangt eine Antwort. Die Antwort auf das Verbrechen ist negativ bewertend oder abwehrend. Das Spektrum der möglichen Antworten geht von der Übel zufügenden, vergeltenden Strafe bis zur zweckorientierten sozialtherapeutischen oder präventiven Maßnahme. Mann kann, mit E. Durkheim, im Verbrechen auch eine positive Funktion sehen. Verbrechen sei notwendig zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Normensystems, da es die Reaktion der Kontrollorgane herausfordere. Die funktionale Analyse des Verbrechens zeige, daß seine Existenz eine Erhärtung der bestehenden, aufrechtzuerhaltenden Sozialnormen bewirke, da es helfe, Bedeutung und Wert der Normen gemeinbewußt zu machen.
Aus: Verbrechen und soziales Umfeld, Mannheim 1979
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