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»Gefreite« und »Generäle«

■ »Pilotenspiele« grassieren in der Ex-DDR/ Initiatoren nutzen Hierarchiegläubigkeit der Opfer/ 3.000 Mark und man ist »Gefreiter«

Brandenburg. Eilig packt der General die Hundertmarkscheinbündel in einen abgewetzten Aktenkoffer. Schauplatz der Geldübergabe: eine Baracke in Röntgental bei Bernau, nordöstlich von Berlin. Draußen ist es dunkel. Nur eine Neonröhre erhellt den winzigen Raum, in dem sich etwa 30 Männer und Frauen drängen. »Wahnsinn«, flüstert einer. Denn der General ist in Wirklichkeit ein Eisdielenbesitzer und war vor vier Tagen noch Gefreiter. Nun ist er um 21.000 Mark reicher.

Seit etwa drei Wochen grassiert es im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat: das »Generalsspiel«, die Ostversion des altbekannten »Pilotenspiels«. Wer einsteigen will, muß 3.000 Mark an einen General zahlen und ist erst einmal Gefreiter. Wenn der General 21.000 Mark kassiert hat, muß er aussteigen; ein Major nimmt seinen Platz ein, die Gefreiten werden zu Leutnants. Sie müssen nun ihrerseits für jeweils zwei neue Gefreite sorgen, damit der Geldfluß innerhalb der Rangpyramide nicht versiegt. Das hört sich einfach an, doch die Tücke liegt in der Mathematik. Denn aufgrund der exponentiellen Spielstruktur müssen nach nur fünf Spieldurchgängen theoretisch bereits eine Viertelmilliarde Menschen mitmachen...

Ganze Dörfer sind inzwischen von der Spielepidemie erfaßt. So auch Buchholz, nördlich von Berlin. Dort spielt fast die gesamte Belegschaft einer Obst- und Gemüsefirma mit. Normal gearbeitet wird kaum noch, weil jeder krampfhaft nach neuen Mitspielern sucht. Wer als Gefreiter neu einsteigen will, hat es leicht: Ob in der Bäckerei, im Fleischerladen oder im örtlichen Supermarkt — überall wimmelt es von Leutnants, Majoren und Generälen.

Im Gegensatz zum Pilotenspiel mit seinem Jetset-Flair für Yuppies wendet sich das Generalsspiel speziell an die Ex-DDRler: »General 3000« heißt es in Frakturschrift auf den Teilnehmerlisten, die alten Dienstgradabzeichen der NVA kennzeichnen die Plätze in der Rangpyramide. Anders als im Westen läuft alles in bar ab. Es gibt weder Quittungen noch gedruckte Spielregeln.

Ebenfalls anders als im Westen verdienen die Initiatoren des Kettenspiels auch dann noch, wenn sie selbst nicht mehr mitspielen. Denn beim Generalsspiel müssen die Spieler bei jedem Vorrücken in der Rangpyramide einen neuen Listenvordruck ausfüllen. Doch diese »Originaldokumente« gibt es ausschließlich in sogenannten »Zentralen« in Cottbus und Risa. Täglich treffen sich dort Hunderte von frischgebackenen Generälen aus der gesamten Ex- DDR, um brav für ein neues, computergedrucktes Spielformular anzustehen. Kostenpunkt pro Stück: 500 Mark. Wartezeiten von bis zu vier Stunden sind keine Ausnahme. Einen objektiven Grund für die Abhängigkeit von der »Zentrale« gibt es dabei nicht. Die Antwort eines Generals auf die Frage, warum er sich die Liste nicht einfach selber kopiert: »Das ist doch ein reelles Spiel«.

Reell oder auch nicht — das »Generalsspiel« ist auf jeden Fall legal. Ein Gefreiter aus Zepernick bei Bernau bringt die allgemeine Stimmung auf den Punkt: »Vielleicht ist das meine große Chance«. Marc Fest

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