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Rote Glühwürmchen

■ Die Stadtrauminstallation »Rotverschiebung«, gesehen vom Fernsehturm

Und nun einige technische Daten: Wir steigen mit sechs Metern pro Sekunde. Die Gesamtsteigezeit beträgt 40 Sekunden.« Bei zirka 100 Meter Höhe, schätze ich, fallen mir beide Ohren zu. Ich schlucke und versuche es mit der Stoltenbergschen Kiemenatmung. Doch ohne Erfolg. »Der Aussichtsrundgang befindet sich in einer Höhe von 203 Metern«, und »das Tele-Café bietet Platz für 200 Personen«. Schon sind wir oben. Der sprechende Fahrstuhlmann öffnet die Türen. »Zum Café rechts zur Treppe, links beginnt der Aussichtsrundgang«, sagt er. Dann rast er mit sechs Metern pro Sekunde wieder nach unten. Wahrscheinlich hat er sich beide Trommelfelle herausoperieren lassen, denke ich.

Zwischen dem Fernsehturm am Alexanderplatz und dem Fernmeldemast Schäferturm im Süden Berlins flackert bis Dezember jede Nacht von 19 bis 22 Uhr eine rote Lichtspur, die von besagter Plattform im »Aussichtsrundgang« zu sehen ist. In südwestlicher Richtung spannt sich die Stadtrauminstallation Rotverschiebung der Gruppe »Paint the town red« (P.t.t.red), die die imaginäre Linie der beiden gegenüberliegenden Peilpunkte durch linear in den Stadtraum gesetzte Blitzlampen zu einer erlebbaren Verbindung gestreckt hat. In das wirre Raster aus Straßen und Plätzen im Berliner Stadtgrundriß schneidet Rotverschiebung ein geordnetes System aus optischer Energie, das eine Topographie unabhängig vom Lichtermeer der Stadt wie seiner erleuchteten Achsen entwirft. Aus der Höhe gleicht die rote Linie jenem gleichnamigen Faden, unter dem der unregelmäßige Rhythmus aus Hell und Dunkel, Ampellichtern und Autoscheinwerfern, Flugsicherungslampen und Neonreklamen chaotisch und wild erscheint. Das Reglement in der flächenhaften Ausdehnung wirkt gegenstandslos, grotesk und planlos, wechselt man die Perspektive und spannt eine Linie über das Raster.

Die zwanzig Kilometer lange Rotverschiebung zwischen Alex und Schäferturm blitzt mit elf Lampen aus dem Zentrum in die Peripherie. Ihr Blinkrhythmus ist als Lauf geschaltet. Als Positionslampen auf der Staatsbibliothek, über dem Tiergarten, auf den Wohnhäusern in Schöneberg und Schmargendorf bis zum Großen Wannsee sind die Strahler für Passanten — ebenso wie für nicht informierte Fernsehturmbesucher — aber nicht als miteinander kommunizierende Kunstpunkte im Stadtraum wahrnehmbar, sondern bleiben anonyme Lichtpartikel wie andere Blitzlampen auch. Ihre Bedeutung liegt nicht mehr in der Unterscheidung von Kunst und Alltag oder gar in einer inszenierten Aura, sondern findet sich allein in ihrer Geschichte, Planung und Deutung.

Ebenso wie die ästhetischen Verbindungsprojekte Goldener Schnitt (Berlin) und Brücken (Bremen) ist Rotverschiebung über den Zeitraum einer zweijährigen Planung entstanden, der die Installation veränderte und ihr eine eigene Transparenz und Dynamik, etwa durch die Zufälligkeit in der Positionierung, gab, die das Projekt vom hohen Ideal übergreifender Vernetzung über der Stadt zum desillusionierenden Fädlein haben werden lassen, zu dem es nach der Reibung an konkreten Zusammenhängen geschmolzen ist. Anders als die Laser- und Neonkanonen, die am Vereinigungstag in Berlin schon wieder wie Flakscheinwerfer grell den Nachthimmel absuchten, sucht Rotverschiebung letztendlich das Verschwinden im Raum, sichtbar nur aus wenigen Perspektiven, weil die Stadt und ihre Energie stärker ist. So sind für Arbeiten von »P.t.t.red« auch langwierige Behördengänge, Wartezeiten und Genehmigungen von Senatsverwaltungen und Flugsicherungsstellen, die Veränderungen und Absagen von Hausbesitzern programmatisch. Kunst und Technik entstehen als Eingriff wie Reaktion auf Alltag und Zeit, sind Ergebnis von Strategie und Willkür.

Zugegeben, ich hatte Schwierigkeiten die Blitzlampen auf Anhieb zu finden. Sie kommen als unscheinbare Markierungen am Himmel über Berlin kaum zur Geltung. Bei Nebel sieht man sie gar nicht. Bei Funkturmbestrahlung hat man wegen der Spiegelung Schwierigkeiten, sie zu verfolgen. Ein paar Glühwürmchen erkennt man eher. Aber entspricht nicht die Zufälligkeit, mit der sie plötzlich vor den Augen tanzen, jener Zufälligkeit ihrer Entstehung? Darum erscheint die gerade Linie immer weniger ideal, je länger man ihr nachschaut, und taucht ganz ab, hat man den Blick kurz nach einer anderen Richtung schweifen lassen. Der sprechende Fahrstuhlmann hat die Rotverschiebung auch noch nicht gesehen, obwohl er sie längst hätte entdecken müssen, liegt sie doch genau in der Achse seiner Fahrstuhltür. »Bitte nicht springen«, meinte er bei der Abfahrt aus 203 Meter Höhe. rola

Die Stadtrauminstallation Rotverschiebung ist noch bis zum 22. Dezember zu sehen, täglich zwischen 19 und 22 Uhr vom Fernsehturm am Alex und vom Europa-Center. Die begleitende Ausstellung ist Do. bis Sa. von 19 bis 21 Uhr in der Galerie P.t.t.red, Naunynstraße 65, Berlin 36 zu sehen.

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