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„Wir sind der Bund“ reicht nicht mehr aus

■ Neue Anleihe über acht Milliarden DM: Frankfurter Kapitalmarkt stöhnt über Bonner Geldhunger/ Zinsboden bei 9 Prozent/ Hickel: Tanz auf dem Vulkan

Frankfurt (ap) — In Frankfurt gibt es einen Dukatenesel, der nicht nur Milliarden für den wirtschaftlichen Aufbau der ehemaligen DDR hergibt, sondern die Bundesbürger im Wahljahr 1990 auch vor Steuererhöhungen bewahrt — den Kapitalmarkt. Kräftig sprudeln soll diese Quelle noch einmal, wenn Ende dieser oder Anfang der nächsten Woche eine neue Bundesanleihe über schätzungsweise acht Milliarden Mark ins Haus steht. Am Rentenmarkt der Frankfurter Wertpapierbörse ist die Stimmung jedoch schlechter denn je. „Wir können einfach nicht mehr“, klagt der Chefrentenhändler einer Großbank. Den Marktteilnehmern gehe langsam die Liquidität aus, und der Erwerb von Staatsanleihen auf Kredit sei „extrem gefährlich“ geworden.

Die für dieses Jahr erwartete Neuverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden — rund 120 Milliarden Mark — übersteigt den bisherigen Rekord aus dem Jahr 1981 bei weitem. Für 1991 haben Fachleute der Bank für Gemeinwirtschaft eine weitere Zunahme auf 140 bis 150 Milliarden Mark vorhergesagt.

Darin enthalten ist die Jahresfüllung für den Sonderfonds „Deutsche Einheit“, dessen 115 Milliarden Mark bis 1994 zu vier Fünfteln mit Krediten beschafft werden sollen. Die zusammengefaßte Staatsverschuldung übersteigt in diesem Jahr erstmals die Schwelle von einer Billion Mark — zu Lasten künftiger Generationen: Jedes Kind, das in diesen Tagen zwischen Aachen und Görlitz geboren wird, kommt mit 13.000 Mark Schulden zur Welt. Die ersten Hinweise auf zunehmende Beanspruchung des Kapitalmarkts durch den Staat haben bereits Anfang dieses Jahres zu einem starken Anstieg der Zinsen geführt.

Am Rentenmarkt ist die durchschnittliche Umlaufsrendite von 6,8 Prozent im August vergangenen Jahres auf mehr als neun Prozent geklettert. Die Zinsmarke von neun Prozent, die für den Rentenmarkt bisher stets „ein Deckel“, also die Obergrenze, gewesen sei, habe sich inzwischen zum „Boden“ entwickelt, heißt es bei Marktteilnehmern.

„Ich sehe keine Chance für einen Zinsrückgang“, sagt ein Händler und prophezeit für 1991 sogar zweistellige Zinssätze. Der Verbraucher bekommt die Finanzierung der Einheit so zwar nicht beim monatlichen Steuerabzug, aber bei eigenen Kreditwünschen zu spüren. Bei sinkenden Anleihenkursen und entsprechend steigender Rendite muß der Staat schließlich für seine neu ausgegebenen Anleihen ebenfalls einen höheren Zins festsetzen, um überhaupt Käufer für sie zu finden.

Nachdem festverzinsliche Papiere 1987 im Schnitt noch mit 5,9 Prozent plaziert worden waren, lockte die jüngste Bundesanleihe bereits mit einem Zins von neun Prozent. Entsprechend kräftig steigen dadurch auch die Zinsausgaben des Staates. Dieser Posten in den öffentlichen Haushalten erreichte bereits im vergangenen Jahr 61 Milliarden Mark, knapp zehn Prozent aller Ausgaben.

Trotz der attraktiven Zinsen halten Rentenhändler im kommenden Jahr „den einen oder anderen Hänger“ für möglich. Das bedeutet, daß der Markt eine Staatsanleihe nicht aufnimmt. In diesem Fall müssen die großen Banken bestimmte Pflichtmengen abnehmen.

„Normalerweise kann der Markt das gar nicht schaffen“, erklärt der Rentenhändler einer großen Frankfurter Bank. Bisher sei die Aufnahmekapazität des Kapitalmarkts nur deshalb nicht an Grenzen gestoßen, weil das Sparguthaben in der ehemaligen DDR zu einem erheblichen Teil in Bundesanleihen geflossen sei. „Das ist aber ein einmaliger Effekt“, betont der Händler. Für einen besseren Absatz der Staatspapiere wünscht er sich „auch ein bißchen Marketing“ sowie eine Reform des „verstaubten Emissionsverfahrens“ über das Bundesanleihekonsortium. „Zu sagen: Wir sind der Bund, reicht allein nicht mehr aus.“ Beim Bundesfinanzministerium heißt es jedoch, aus Bonner Sicht gebe es derzeit „keine Hinweise auf Spannungen“ am Kapitalmarkt. Die hohe Ersparnisbildung stärke die Aufnahmefähigkeit des Kapitalmarkts. Mit dem dritten Nachtragshaushalt, der erstmals auch das Budget für die fünf neuen Bundesländer einschließe, sei zudem für alle Marktteilnehmer Klarheit geschaffen worden. Eben dies wird aber in der Kreditwirtschaft angezweifelt. Die „Sorge über weitere Finanzierungslücken“ behindere eine nüchterne Beurteilung der öffentlichen Defizite an den Kapitalmärkten, erklärt die Dresdner Bank.

Aus der Bundesrepublik wurden zuletzt noch jährlich 120 Milliarden Mark an Kapital exportiert, zum Teil in Form von Auslandsanleihen, mit denen Finanzdefizite beispielsweise in den USA ebenso finanziert wurden wie Entwicklungsprojekte für die Dritte Welt.

Nach der deutschen Einigung sind diese Zeiten allerdings vorerst vorbei. „Deutschland wird eine gewisse Zeit lang für den Rest der Welt keine größere Kapitalquelle sein“, erklärte kürzlich Hans Tietmeyer vom Direktorium der Deutschen Bundesbank. Entsprechend heißt es am Rentenmarkt: „Der Bund ist so dominant, daß der Platz für andere Anleihen immer enger wird.“

Die Milliardenumsätze am Kapitalmarkt, aber auch auf anderen Finanzmärkten wie dem Devisenhandel, haben nach Darstellung des Bremer Wirtschaftswissenschaftlers Rudolf Hickel jeden Bezug zu ökonomischen Realitäten verloren. Dies werde nicht ohne Auswirkungen auf die Stabilität der gesamten Volkswirtschaft bleiben, meint der Wissenschaftler. Er beklagt, daß „durch den Zusammenbruch des östlichen Wirtschaftssystems die eigenen Fehlentwicklungen völlig unterschätzt werden“. In den starken Kursschwankungen und im Verlust einer längerfristigen Kalkulierbarkeit komme eine Situation zum Ausdruck, die einem „Tanz auf dem Vulkan“ gleiche.

(Siehe auch obenstehenden Kasten)

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