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Veranstaltungen wider das Vergessen

■ Zwei große Demonstrationen am Wochenende: Die eine will an den Faschismus, die andere an den 4. November 1989 erinnern/ »Europäisches Bürgerforum« lädt zu runden Tischen ein

Berlin. Über hundert Gruppen »links von den Grünen« haben für kommenden Samstag bundesweit zu einer Demonstration gegen Deutschen Nationalismus, Rassismus und Imperialismus in Berlin aufgerufen. Motto: »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«, ein Zitat aus Celans Todesfuge, das in letzter Zeit durch inflationären Gebrauch in Gefahr gerät, unscharf zu werden. Mit der Demonstration wollen die VeranstalterInnen an die sogenannte »Reichskristallnacht« des 9. November 1938 erinnern, den Tag der Massenpogrome gegen jüdische Menschen im Dritten Reich.

In mehreren Redebeiträgen, unter anderen von jüdischen Überlebenden des Holocaust und Flüchtlingen, soll auf den wachsenden Rassismus und Antisemitismus seit der Wiedervereinigung aufmerksam gemacht werden: »Wohnungen statt Ausländer«, habe er neulich in einer Zeitung lesen müssen, berichtete der türkische Immigrant Garip Bali gestern der taz. Erst in der letzten Woche, so die Jüdin Maria Baader, versuchten Unbekannte einen Brandanschlag auf die Synagoge in der Oranienburger Straße — an gleicher Stelle ging am 9. November 1939 die Synagoge in Flammen auf.

Die Demonstrationsroute soll an historischen Orten vorbeiführen: Ausgangspunkt ist um 12 Uhr das Sowjetische Ehrenmal am Brandenburger Tor, »das Symbol für den Sieg über den Faschismus«, so Martin Römlin von der Vorbereitungsgruppe. Dann soll es am Brandenburger Tor vorbei zum Lustgarten gehen, wo am 7. Februar 1933 die letzte große Anti-Hitler-Demonstration stattgefunden hatte. Anschließend werde der Zug durch das Scheunenviertel ziehen, den Ort des jüdischen Lebens in den zwanziger und dreißiger Jahren, und schließlich auf dem Alexanderplatz enden.

Diese Demo »gegen das schnelle Vergessen« wird übrigens auch vom »Runden Tisch von unten« unterstützt, der seinerseits gegen das schnelle Vergessen der schon historischen Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz zu einer Kundgebung aufruft. Sie soll am Sonntag, ihrem Jahrestag, um 10 Uhr wiederum auf dem Alex beginnen. Pfarrer Friedrich Schorlemmer wird dabei der einzige Redner sein, der dort schon im letzten Jahr vor einer halben Million DemonstrantInnen sprach. Im übrigen werden VertreterInnen der Interessensorganisationen des »Runden Tisches von unten« auftreten, also des Bauernverbandes, des Arbeitslosenverbandes, des Mieterschutzvereins, der Opfer des Stalinismus, des Neuen Forums, des Unabhängigen Frauenverbandes und weiterer Gruppen.

Die Kundgebung soll, so Bärbel Bohley zur taz, »keine Nostalgieveranstaltung« werden, sondern unter der Losung »Gleichheit für alle!?« die gleichen sozialen Rechte »für alle in ganz Deutschland« einklagen. Die politischen Forderungen von 1989 nach Versammlungs-, Meinungs- und Reisefreiheit seien erfüllt, doch in rechtlicher und sozialer Hinsicht seien neue Mauern errichtet worden, die die ehemaligen DDR-BürgerInnen zu »Rentnern zweiter Klasse, Ärzten zweiter Klasse, überhaupt Deutschen zweiter Klasse« machten.

Musikalisch begleitet wird die Kundgebung durch SängerInnen und MusikerInnen aus dem europäischen Ausland, die vom »Europäischen Bürgerforum« eingeladen wurden. Jenes Forum lädt nämlich anschließend ab 14 Uhr zu einem »Volksfest« mit internationalen Musik- und Theatergruppen und politischen »Kommentaren zur Lage der Nation« ins Haus der Jungen Talente am U-Bahnhof Klosterstraße ein. Zu diesem Fest und zur Erinnerung an jenen 4. November 1989 als einen Augenblick, in dem die Menschen »ihr gesellschaftliches Geschick in die eigenen Hände« nahmen, rufen rund hundert Persönlichkeiten aus zehn Ländern auf, darunter Robert Jungk, Günter Grass, Stefan Heym, Christa Wolf, der Autor von Offene Adern Lateinamerikas, Eduardo Galeano, der Anführer der portugiesischen Nelkenrevolution, Otelo de Carvalho, und der US-Sänger Pete Seeger.

Doch bei Erinnerungen soll es nicht bleiben, es geht auch um konkrete Perspektiven der europäischen Zusammenarbeit. Deshalb werden bereits am Samstag runde Tisch mit BürgerInnen aus Ost und West zu folgenden Schwerpunkten stattfinden:

Medien und Kultur: Zerstörung kultureller Identität unter dem Vorwand der Marktwirtschaft — Massenmedien und freie Radios. Daran teilnehmen werden u.a. Philosophen und Schriftsteller aus Frankreich und der Sowjetunion. 14 Uhr, Franz- Club, Schönhauser Allee 36-39.

Umwelt: Teilnehmer: Sebastian Pflugbeil und verschiedene europäische ExpertInnen. 13 Uhr, Haus am Köllnischen Park 6-7, Raum 510.

Erziehung: Lage der Lehrer — Berufsverbote. 15 Uhr, Ernst- Busch-Haus in Pankow, Leonhard- Frank-Straße 11.

Gesundheit: Schicksal der Krankenhäuser und Polikliniken — private Niederlassungen. 10 Uhr, Charité, Klubraum des Versorgungszentrums, Schumannstraße 20-21.

Landwirtschaft: Der Osten und die EG. Mit Bauerngenossenschaftlern aus Frankreich und Portugal. Teilnahme nur nach Anmeldung, Tel.: (0372) 2126745. maz/usche

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