Der hinduistische Fundamentalismus setzt sich gegen den islamischen durch

■ Im Fürstensaal des Schlosses zu Tübingen tagen die Ethnologen über den Hinduismus. Wir haben Shalini Randeria, Inderin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ethnologischen Institut der Freien Universität, aus der Tagung ans Telefon geholt INTERVIEW

taz: Als moderner Europäer vermutet man hinter religiösem Streit immer soziale Hintergründe. Gibt es welche bei dem aktuellen blutigen Streit in Indien?

Shalini Randeria: Die sind in der Geschichte verwurzelt. Eine bestimmte Art des Hinduismus als Gegenbild einer bestimmten Art des Islam hat sich bereit am Ende des 19. Jahrunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts herausgebildet. Also im Rahmen des englischen Kolonialismus und des Versuchs der Kolonialmacht, die beiden Gemeinschaften als religiöse Gemeinschaften zu definieren. Das ist der eine Hintergrund. Natürlich gibt es auch soziale wie machtpolitische und ökonomische Ungleichheiten. Aber die Moslems haben jahrhundertelang die königlichen Dynastien gestellt, sie wurden erst von den Engländern abgesetzt. Im muslimischen Selbstverständnis spielt dieser Machtverlust eine große Rolle.

Sind die Moslems die Gastarbeiter Indiens?

Nein. Das kann man nicht sagen. Aber insgesamt sind in den meisten Gegenden die Muslime ärmer als die Hindus, besitzen zum größten Teil kein Land, haben weniger Bildungsmöglichkeiten, da gibt es schon gewaltige soziale Unterschiede.

In Zentraleuropa hat man vom Hinduismus meist das Bild einer gewaltfreien, in sich versenkten Religiosität. Ist das ein richtiges Bild?

Es gibt verschiedene Bilder des Hinduismus. Es gibt auch verschiedene Selbstbilder, nicht nur Fremdbilder. Zu dem Bild der Orientalisten vom Orient gehörte das Bild des Hinduismus als gewaltfreier, toleranter Religion, in der es vor allem darum geht, diese Welt zu transzendieren. Die Hindus haben zum Teil dieses Bild übernommen und propagieren es auch. Für Ghandi war das sehr wichtig.

Aber das ist nicht das einzige Bild des Hinduismus. Weil der Islam als eine agressive Religion, die auf Mission und Konversion aus ist, wahrgenommen wird, gibt es im Hinduismus eine fundamentalistische Gegenströmung. Das ist unabhängigkeit davon, ob dieses Bild des Islam stimmt. Nicht erst neuerdings, sondern schon seit über hundert Jahren sagen hinduistischen Fundamentalisten: Die islamische Bevölkerung wächst viel schneller als die hinduistische, weil sie poligam ist. Wir müssen aufpassen, daß wir nicht im eigenen Land eine Minderheit werden. Zweitens: Die islamische Religion ist eine aggressive, wir müssen unsere Gewaltlosigkeit aufgeben, um den Islam bekämpfen zu können. Dem liegt ein anderes Bild vom Islam zugrunde.

Das würde bedeuten: Der hinduistische Fundamentalismus ist keine Reaktion auf europäische Versuche der Kolonialisierung und Zivilisation, sondern eine auf den Islam?

Beides. Daß man überhaupt diese Polarisierung brauchte und diese Art Konstuktion von Bild und Gegenbild gemacht hat, ist ein Reaktion auf den Kolonialismus. In der Vorkolonialzeit war das keine Frage, die alten religiösen Bewegungen waren synkretistisch, da gab es enge Berührungspunkte zwischen Islam und Hinduissmus, da gab es kein Problem. Dieses Zahlenspiel: wer hat wieviel Prozent der Bevölkerung und welche politischen Forderungen ergeben sich daraus, das ist schon eine Kolonialpolitik. Int.: K.W.