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Ein irres Projekt für psychisch Kranke

In Leipzig entsteht erstmals ein integriertes Projekt von Werkstätten, Kultureinrichtungen und Wohnmöglichkeiten für psychisch Kranke/ In der DDR war ambulante Hilfe weitgehend unbekannt/ Scheitert der neue „Verein zur Wiedereingliederung psychisch geschädigter Menschen“ an Geldnot?  ■ Von Simone Stosch

Es ist Freitag nachmittag. Auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig spricht Frau Rita Süssmuth zu denen, die von der Arbeit kommen oder schon entlassen sind, denen, die's hören wollen oder nicht mehr hören können von der Mitmenschlichkeit. „Alle reden nur vom Geld“, stellt sie fest, um in ihrer Rede von dem zu schweigen, was man hat oder nicht hat und von dem es sich nicht zu reden schickt.

Getreu dem konservativen Geist, für den sozial das ist, was aus Menschlichkeit geschieht und die Staatskasse kein Geld kostet, fordert Frau Süssmuth an diesem sonnigen Freitag Rücksichtnahme für die Kinder und Kranken, appelliert an die Firmen, die Alten nicht zu entlassen, auch Frauen einzustellen, und fordert neben dem Engagement für diese und andere Minderheiten auch besonderes Verständnis für die Situation der psychisch Kranken in der ehemaligen DDR.

Während Frau Süssmuth soziale Mutmacherpillen in die Menge wirft, beendet in der Oberdorfstraße in Leipzig-Stötteritz Michael K. gerade seine Arbeit. Er hat den Tag damit zugebracht, die kaputte Sitzfäche eines Stuhles neu zu beflechten. Da seine Finger für die feinmotorische Tätigkeit der Stuhlflechterei noch ungeübt sind, ist Michael nicht recht vorangekommen, auch schleichen sich immer wieder Fehler ins Flechtmuster, so daß ihm geholfen werden muß.

Michael ist einer von drei ehemaligen Psychatrieinsassen, die hier seit dem 1.Oktober in einer Stuhlflechterei arbeiten. Die Werkstatt ist provisorisch in einem verfallenen Gutshof untergebracht, man findet sie, folgt man zwei kleinen handgeschriebenen Wegweisern in die erste Etage des ehemaligen Wohntrakts. Hier hat der Werkstattgründer und Leiter Michael Hoffmann eine provisorische Werkstatt eingerichtet. Dazu brauchte es nicht viel: Stuhlrohr und alte Stühle, die in der DDR zu Schleuderpreisen zu kaufen waren oder auf dem Sperrmüll lagen.

Zwei Räume weiter arbeiten vier weitere „Nicht-ganz-Normale“ in einer Fahrradwerkstatt. Als Werkbank dient ein alter Bürotisch, den der in Konkurs gegangene VEB für Sportartikel beim eiligen Aufbruch im Sommer zurückgelassen hat. Die Ausrüstung: einige Schraubenschlüssel, ein Hammer, Schraubenzieher...; das spärliche Werkzeug liegt aufgereiht auf dem Nebentisch.

Eine Arbeit „von Idioten für Idioten“

Die Arbeit in diesen Werkstätten ist ein erster Schritt auf dem langen Weg zur Errichtung eines Netzes von kleinen, kommerziell arbeitenden Betrieben, in denen als „psychisch krank“ diagnostizierte Menschen angestellt und zu einem angemessenen Lohnniveau unter fachlicher und therapeutischer Beratung arbeiten sollen. Geplant ist, die Stuhlflechterei mit einer angeschlossenen Tischlerei und einem kleinen Laden in den Innenstadtbereich zu verlegen. Auch die Fahrradwerkstatt sucht ein anderes Gebäude, um kundenwirksamer arbeiten und verkaufen zu können.

Michael K., der nach der Arbeit in seine eigene Wohnung fährt, hat bis vor wenigen Monaten in der „Wohnetage“, dem Übergangswohnheim der staatlichen psychiatrischen Anstalt Dösen gelebt, einige seiner Arbeitskollegen wohnen auch zur Zeit noch in der Klinik. Michaels damaliger Arbeitsplatz: der „A-III-Keller“, eine im Souterrain gelegene Rehabilitationswerkstatt auf dem weitläufig angelegten Gelände dieser um die Jahrhundertwende gebauten „Irrenanstalt“.

„Da ham' wir Plasteautos zusamengesetzt, da ham' wir Sägearbeiten gemacht, draußen die Straße gekehrt, Dias gefeilt. Alles solche Arbeiten...“. Eine Arbeit „von Idioten für Idioten“ — dieser sarkastische Satz eines Sozialtherapeuten reißt eine Situation an, wie sie auch aus westlichen Rehabilitationswerkstätten bekannt ist: Für ein Taschengeld (die dort Arbeitenden erhalten für eine volle Arbeitsstelle die Entlohnung von ca. 78 bis 320 DM) werden oft stumpfsinnige und monotone Arbeiten zum Teil unter völlig unzureichender therapeutischer Betreuung ausgeführt.

Die Zeit scheint vor Leere stillzustehen, wenn auf dem Gelände in Dösen ein Häuflein Irrer die Verbindungsstraßen zwischen den einzelnen Trakten kehrend langsam seine Runde zieht. „Man war eben unter Verrückten“. Hermetisch abgeriegelt sind die Insassen der Anstalt von ihrer sozialen Umgebung außerhalb — eine Situation totaler Geschichtslosigkeit; bis auf mehr oder weniger regelmäßige Besuche zu festgelegten Zeiten fehlen alle Anknüpfungspunkte zum Leben vor der Einweisung.

Bettina Jakobi, eine von drei SozialfürsorgerInnen, die in den letzten Jahren das Übergangswohnheim in Dösen betreut haben, spricht ganz allgemein von dem „großen Einfluß des jeweiligen sozialen Umfelds auf die psychische Konstitution von seelisch labilen oder kranken Menschen“. Viele von denen, die ins Übergangswohnheim gekommen seien, wären wieder „umgeklappt“ und hätten erneut stationär behandelt werden müssen. Auch von denjenigen, die entlassen werden, kommen die meisten zurück.

„Als sie mich entlassen haben, bin ich wieder in die Wohnung zu meinen Eltern zurückgekommen. Das ging ganz gut erstmal, und ich hatte auch eine Arbeit gekriegt. Und da dachte ich, die Anfälle würden nicht wiederkommen. Aber ich hab' mir wohl zuviel zugemutet ... Es war so eng zuhause in der Wohnung, und dann gab's Schwierigkeiten auf der Arbeit... Da bin ich dann wieder ausgeklinkt.“ Seine „Anfälle“: Er hat nachts auf der Straße randaliert, in Autos reingetreten und Passanten beschimpft. „Als die Polizei kam, ham' sie mich gleich wieder zur Klinik gefahren.“

Michael ist da kein Einzelfall. Viele, die aus der Anstalt entlassen werden, kommen zurück, weil sie „draußen“ scheitern. Die meisten Entlassenen kommen wieder in die allzuoft konfliktträchtigen Familienverhältnisse zurück. Die Alternative zur elterlichen Wohnung, ein Platz in einem Übergangswohnheim oder einer therapeutischen Wohngemeinschaft scheitert in der Regel an den nicht vorhandenen Kapazitäten. Es gibt derzeit insgesamt 52 Plätze in Übergangswohnheimen oder Wohngemeinschaften, nötig wären in Leipzig ca. 820 Plätze. In der Beratungsstelle Süd-Ost zum Beispiel müssen die KlientInnen selbst in Notfällen mehrere Stunden warten, bis jemand für sie Zeit hat.

Auch die soziale Umgebung zum Beispiel am Arbeitzsplatz ist oft völlig unfähig, auf die Vergangenheit der Entlassenen zu reagieren, was verständlich ist, denn schneller als im Westen waren in der DDR diejenigen, die „ausklinken“, von der Bildfläche verschwunden.

Ein Psychiatrieprojekt mit Modellcharakter

In dieser Situation entstand bei den drei in Dösen arbeitenden Betreuern der Gedanke, mitsamt der „Wohnetage“ aus dem „Irrenhaus“ auszuziehen und in einem anderen Gebäude ein Übergangswohnheim aufzubauen. Zusätzlich soll mit Hilfe eines Vereins für kommunale Psychatrie ein Netz von Psychatrieeinrichtungen in Leipzig geschaffen werden, zu dem kleine Betriebe, eine Gärtnerei und eine Vollkornbäckerei gehören sollen. Darüber hinaus ist ein Kulturzentrum für „Kranke“ und „Normale“ geplant. Dieses Projekt könnte Modellcharakter besitzen, denn Alternativen zu den psychatrischen Großkliniken und deren Reha-Einrichtungen gab es auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bislang nicht.

Seit dem Februar dieses Jahres existiert der „Verein zur Wiedereingliederung psychisch geschädigter Menschen“, ein Name, der zuerst auf der Zunge pappt und dann die schlimmsten Assoziationen über Glieder und Eingliederung aller Art weckt. Der Name zeigt jedoch, wie sehr auch bei denjenigen, die sich in der DDR aktiv mit der Psychatrie auseinandersetzten, eine Sprache fehlt, die die Problematik psychischer Erkrankung anders fassen könnte als in dem Abgrenzungsverhältnis von krank/gesund — innerhalb der Gesellschaft und außen vor.

Seit Gründung des Vereins arbeitet sein Vorstand haupt- und ehrenamtlich dafür, Räume anzumieten und Finanquellen aufzutreiben. Erste Anfragen am Runden Tisch im Frühjahr stießen auf „großes Interesse“, „interessiertes Wohlwollen“ und zahlreiche Zusicherungen, das Projekt zumindest anfänglich zu unterstützen. Eine einmalige Summe ehemaliger SED-Gelder von 55.000 Mark ist im Juni rechtzeitig vor der Währungsunion vom Rat der Stadt, Abteilung Gesundheitswesen, auf das Vereinskonto überwiesen worden. Ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts der dringend benötigten Gelder:

Da ist zum Beispiel der Gutshof: Wo heute die Stuhlflechterei und Fahrradwerkstatt vor sich hinwerkeln, soll das Übergangswohnheim mit 18 Plätzen entstehen. Das Gebäude ist von Grund auf renovierungsbedürftig: Man muß die Räume komplett um- und behindertengerechte Sanitäranlagen einbauen. „Wir würden ja zusammen mit den Betroffenen die Renovierungsarbeiten beginnen, aber wir brauchen die Hilfe von Fachkräften und auch Material“, erzählt ein Mitglied des Vereins.

Baumaterial und Handwerker — beides ist im Osten noch immer schwer zu bekommen. Und, da die Handwerker mit den Preisen mittlerweile ihre westdeutschen Kollegen überrundet haben, reichen die geschätzten Baukosten an die Millionengrenze.

Komplett umgebaut werden muß auch ein ehemaliges Stasi-Objekt, wo die Stuhlflechterei nebst Tischlerei und Laden untergebracht werden soll. Geschätzte Kosten: 17.000 DM. Hier, in der Paul-Heise-Straße wurden bis zum letzten Herbst in Stasi-eigener Produktion Perücken, künstliche Bärte und Masken hergestellt, außerdem lagerten hier Kameras, Uniformen und anderer Statssicherheitsbesitz. Im Frühjahr wurden die Stasi-Objekte nach und nach durch das Bürgerkomitee entdeckt und geöffnet.

Den Behörden schien damals daran gelegen, mit der Vergabe der an die Vergangenheit erinnernden Räumlichkeiten auch diese selbst loszuwerden. Aus dieser Zeit stammen die Mietverträge für die zukünftige Stuhlflechterei, den Gutshof und die Büroräume des Vereins in der Wiebelstraße.

Der Verein hat auch Nutzungsanträge für Räume gestellt, in denen eine dringend notwendige psychosoziale Beratungsstelle aufgebaut werden soll. Außerdem planen einige Mitglieder, das gerade pleite gegangene und jetzt leerstehende „Palast- Theater“ anzumieten. Dort könnte mit einigen „Kranken“ wieder ein kleines komunales Kino aufgebaut werden, an anderen Tagen soll der Raum von einer Theatergruppe mit Ver-Rückten genutzt werden; ein eigenes „Verrücktencafé“ könnte helfen, daß das Projekt sich finanziell alleine tragen könnte. Der Konjunktiv von Möglichkeiten und Notwendigkeiten ließe sich grenzenlos weiterführen.

In der Stadtverwaltung fühlt sich niemand zuständig

Zur Zeit jedoch stagniert die Verwirklichung des Projekts einer gemeindenahen Psychiatrie. Seit der Währungsunion reagiert die Stadt eher zögernd auf die Miet- und Kaufverträge, da man sich wohl eine gewinnbringendere Vermietung an westliche Unternehmen erhofft. Nachfragen jedenfalls beantwortet die Stadt mit der monotonen Auskunft, die Anträge würden an die zuständigen Stellen weitergeleitet. Da über die neuen Zuständigkeiten nach wie vor allgemeine Verwirrung und Unsicherheit herrscht, werden die Anträge von Schreibtisch zu Schreibtisch geschoben, ohne bearbeitet zu werden. Andreas Schneider, Diplompsychologe aus Westberlin und seit 1.Juli dieses Jahres Geschäftsführer des Vereins, kann, während er sich am Telefon die Finger wundwählt, niemanden erreichen, der sich zuständig fühlte.

Auch über weitere finanzielle Unterstützung hat der Verein von der Stadt noch keine Zusage erhalten, und während die Stadt sich darauf verlegt, die Erstellung eines Haushaltsplan abzuwarten, um dann für 91 über Zuschüsse zu entscheiden, rechnet der Verein mit seiner eigenen Pleite für das kommende Frühjahr.

Einer der Gründe für die allgemeine Finanzmisere der Ämter ist auch, daß einige Sozialabgaben aus der Wirtschaft zur Zeit nicht erhoben werden. Ehemalige DDR-Betriebe, die weiter existieren, sind dazu verpflichtet, zu 16 Prozent Behinderte einzustellen oder eine monatliche Abgabe von 200 DM für jeden nicht eingerichteten Arbeitsplatz zu zahlen. Obwohl die Betriebe aus Angst vor steigender Konkurrenz den größten Teil der geschützten Arbeitsplätze schon abgebaut haben, werden die Gelder zur Zeit nicht eingefordert, da die Betriebe zu diesen Abgaben angesichts ihrer wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage sind.

Vor dem neu eingerichteten Arbeitsamt in Leipzig stehen die Menschen Schlange. Angesichts der rapide steigenden Arbeitslosigkeit ersticken die Ämter im Wust der Anträge auf Arbeitslosenunterstützung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Anträgen auf Reha-Stellen. Denn seit dem 3.Oktober gehören die arbeitstherapeutischen Stellen nicht mehr in den Bereich der Sozialfürsorge, sondern fallen unter die Zuständigkeit der Arbeitsämter. Mit ihren Anträgen auf einen geschützten Arbeitsplatz sitzen deshalb jetzt viele aus der Klinik Entlassene in der Warteschlange vorm Arbeitsamt und müssen sich von den Mitarbeitern, die natürlich keinerlei pädagogische oder therapeutische Ausbildung besitzen, über ihren Werdegang befragen lassen, bevor ihr Antrag in die überquellende Kartei aufgenommen wird.

Spendengelder für das Entwicklungsland DDR

Die kleinen Büroräume der Vereine, in denen zur Zeit auch provisorisch therapeutische Beratung angeboten wird, sind derzeit überlaufen mit Ratsuchenden. Dies zeigt, daß der Bedarf an Einrichtungen wie der in Leipzig geplanten, angesichts der zunehmenden sozialen Unsicherheiten noch steigt.

Zur Zeit reisen die Vereinsmitglieder auf der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten quer durch die deutschen Lande. Durch allerlei Aktionen sind in den letzten Monaten 10.000 DM auf das Spendenkonto geflossen, unter anderem 3.000 DM aus der Westberliner Kneipe „Straßenbahn“, die seit Jahren ihre Trinkgelder für die Unterstützung diverser Projekte — vor allem in der Dritten Welt — sammelt. Gemäß der Vermutung, daß die Schwelle zum Entwicklungsland sich derzeit an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze befindet, spendet die „Straßenbahn“ im Augenblick ihre Trinkgelder vor allem in die DDR.

Auf der allwöchentlichen Mitgliederversammlung der bestehenden Werkstätten werden die „Kranken“ aufgefordert, Kritik und Verbesserungsvorschläge einzubringen. Sie antworten höflich. Allen gefällt die neue Arbeit gut, alle sind zufrieden und dankbar, hier arbeiten zu dürfen und „auf die richtige Bahn gelenkt zu werden.“ Sehr bereitwillig erzählen sie ihre Krankengeschichte, scheinen die eigene Krankenkartei genau zu kennen, bis in das Fachvokabular der Psychiatrie hinein sind sie vertraut mit dem medizinisch-therapeutischen Blick auf ihre „Meise“. Später, in der Küche, murmelt Petra, die sich auf der Besprechung zurückgehalten hatte, daß sie eigentlich nicht wisse, warum sie arbeiten solle. Sie sei zuhause mit ihren Katzen genug beschäftigt. Ein kleiner Schatten auf dem allzu lichten Stimmungsbild.

Es ist die jahrelang eintrainierte Hierarchie zwischen Betreuer und Betreuten, die die Betreuten mit gesenktem Blick ihre Geschichte runterrasseln läßt. Und es ist eben diese Hierarchie, die Michael über seine Angstgefühle sagen läßt: „Wenn's ganz schlimm ist, sagt der Werkstattleiter, soll ich's melden.“ Es gehört noch eine ganze Menge mehr dazu, dieses Selbstverständnis zu brechen, als ein Arbeitsplatz im Projekt „Arbeit — Wohnen — Freizeit“. Aber dies könnte ein Weg sein.

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