: Das Staunen der Boutiqueuse Genoveva
Der Rückgang des Tourismus in Italien hat keineswegs nur negative Auswirkungen/ Die Ära des „Postgermanismus“ hat begonnen/ Man entdeckt die Unabhängigkeit vom Wohlwollen deutscher Reiseunternehmen/ Rückgang der Besucherzahlen nützt dem Umweltschutz und stärkt das Selbstwertgefühl ■ Aus Italien Werner Raith
„Es geht wirklich“, frohlockt, noch immer überrascht, Elio d'Ambrosio in der Strandbar „Zizzi“ vor Ostia, „und es geht gar nicht schlecht“. Sein Kollege Gianni Ercole von der „Bar Porto“ vor Elba sieht „völlig neue Perspektiven“. Bademeister Claudio in Cattolica kann „nachträglich nur noch lachen über all die Ängste, mit denen wir uns bis vor zwei Monaten geplagt haben“, und die Boutiqueuse Genoveva aus Agrigent wundert sich, wie man „mit einem finanziellen Desaster konfrontiert sein kann — und dennoch ziemlich zufrieden“.
Noch im Juli, „als sich die Weltmeisterschaft geschäftlich als Debakel erwies, weil statt der verheißenen zusätzlichen Millionen von Touristen gut eineinhalb Millionen weniger als sonst kamen“, so der Chef des Fremdenverkehrsverbandes der Provinz Latina südlich von Rom, „haben die meisten Tourismus-Abhängigen an eine Art Weltuntergang geglaubt, falls sich auch noch die Prognosen über eine massive Rückläufigkeit der Besucherzahlen, vor allem der Deutschen, im Rest der Saison bewahrheiten sollten“.
Die Prognosen haben sich bewahrheitet: bis zu 40 Prozent weniger BRD-Bürger sind in die traditionellen Sommer-Grills in Italien eingerückt, insgesamt ist die Zahl der Übernachtungen im ganzen Land um mehr als ein Viertel zurückgegangen. Das altbekannte Bild der erstentags noch weißhäutigen, dann geröteten und nach einer Woche dunkelbraun gerösteten Nordmenschen, das vertraute bajuwarisch-schwäbisch-rheinisch-berlinerische Stimmengewirr am Strand und in den archäologischen Zonen fehlte diesmal weitgehend.
Aber dennoch: „Erstaunlich viele zufriedene Gesichter“ bemerkten die ob der finanziellen Einbußen eher auf Verzweiflung, Betriebsschließungen und womöglich Selbstmorde von Bakrotteuren gefaßten Redakteure der großen Tageszeitungen wie 'La Repubblica‘ oder lokaler Postillen wie die 'Gazzetta di Rimini‘. Verschwunden nahezu überall die noch im Mai und Juni allerorten bang gestellte Frage nach den Plänen jener, die hier schon seit langem die Engländer als Trendsetter abgelöst haben: „Kommen die Deutschen zurück?“
***
Eine neue Ära hat begonnen: der „Postgermanismus“. Diese Bezeichnung beginnt sich im Jargon der Tourismus-Branche bereits zu etablieren. Die Annehmlichkeiten der neuen Ära sind „eine ziemlich unverhoffte Entdeckung“ sagt Emanuela, ehemals Wirtin in einem großen Hotel-Restaurant am Jaufenpaß nahe der Grenze zu Österreich. „Man glaubt gar nicht, wie viele Aggressionen sich bei uns allen angestaut hatten: Die Fremden, speziell wenn sie aus dem Norden kommen, wußten natürlich immer alles besser, nach dem Motto ,Wer zahlt, hat recht‘. Selbstverständlich betrachten diese Gäste auch die Zuneigung unserer Kinder als im Preis inbegriffen: ,Komm mal her, gib Tante ein Küßchen‘.“
Emanuela hat aus Angst vor der vollständigen Einschüchterung ihrer Kinder kürzlich den Beruf gewechselt: „Wenn man ins Gastgewerbe geht, weiß man natürlich, daß man es dort ständig mit Fremden zu tun hat. Aber beim Massentourismus gibt es eine Grenze: Ab einem bestimmten Verdienst wird man nicht mehr reicher, sondern verrückt.“
Ganz neue Erfahrungen auch für Italiens professionellste Fremdenverkehrs-Gilde, die von Rimini. „Das erste Jahr zum Durchatmen“, sagt Frau Mantuano, Schwedin von Geburt und seit fast zwei Jahrzehnten mit ihrem Mann Antonio im Hotelgewerbe, derzeit als Besitzer des „Costa del Sole“: „Unsere Kinder waren regelrecht traumatisiert. Die älteste, sie ist jetzt 16, macht noch immer einen großen Bogen um die Gäste, weil die sie immer angrabschen, sich mit ihr fotografieren lassen, ihr Bonbons in den Mund schieben wollten.“
Mit Blick auf die Kontostände ist der Herr Gemahl natürlich ganz und gar nicht der Meinung, daß die neue Entwicklung auch Positives birgt. Darum versucht er speziell die Deutschen mit Sonderpreis-Inseraten wieder zurückzuholen: Vollpension um die 40 D-Mark. Dennoch hat auch er gelernt, daß man „ohne den großen Zustrom der Deutschen sehr wohl überleben kann“.
Seine beiden anderen „Alberghi“ nebenan wandelt er zur Zeit in Appartement-Häuser um: Denn obwohl die Adria-Küste mittlerweile vollkommen zugebaut ist, herrscht dort — wie überall in Italien — große Wohnungsnot für die einheimische Bevölkerung, und dem wird nun mit solcher Transformation abgeholfen.
***
Für viele Italiener hat sich der Sommer 1990 offenbar zu einer Art „Urerlebnis“ entwickelt: Was hat man in den letzten dreißig Jahren nicht alles eingesteckt und hinuntergeschluckt, keine Allüre, auf die man nicht Rücksicht genommen hätte, und das alles immer in der Angst, Gäste zu verlieren und dann am Hungertuch nagen zu müssen. Und nun, wo man die Gäste trotz allen Wohlverhaltens doch verloren hat, stellt sich heraus, daß man keineswegs verhungert. Freilich — so manchem Betrieb geht es mittlerweile an die Substanz; aber die meisten Fremdenverkehrsabhängigen gaben während einer Umfrage im 'Viaggare‘ zu Protokoll, daß sie eben notfalls auf andere Berufe umsteigen würden.
Dies ist eine Entwicklung, die sich auch vor dem krassen Rückgang der Besucherzahlen im letzten Jahr bereits abgezeichnet hatte. Waren in der 130.000-Einwohner-Stadt Rimini Anfang der 80er Jahre noch gut zwei Drittel der Berufstätigen unmittelbar oder mittelbar vom Tourismus abhängig, so sind es mittlerweile nur noch knapp die Hälfte. „Es waren nicht erst die Algen 1988 und 1989“, sagt Ariano Mantuano, der Bruder des „Costa del Sole“-Besitzers. Der engagierte Umweltschützer, von Beruf Ingenieur und Stadtplaner, ist soeben Stadtrat in Rimini geworden. Mit seinem nach wie vor auf eine Wiederbelebung des Massentourismus hoffenden Bruder stimmt er in diesen Fragen ganz und gar nicht überein: „Es waren doch nicht erst die Kampagnen gegen zu viel Sonne oder die Warnungen vor Betrügern und Räubern an den Adria-Stränden — der Massentourismus hat sich ganz allgemein totgelaufen.“
Bestes Anzeichen dafür: „Bis Anfang der 80er Jahre war Rimini außerhalb der Saison eine einzige Baustelle: da wurden weitere Stockwerke draufgesetzt, Swimming-Pools eingerichtet, die Strandbar modernisiert. Schon seit fünf, sechs Jahren ist es damit praktisch aus.“
***
Daß sich viele Leute aus der Tourismus-Branche schon vor einiger Zeit sachte von ihren Jobs verabschiedet haben, daß auch die Rückgänge dieses Jahr nicht zu der prognostizierten großen Katastrophe geführt haben, daß die Einheimischen stattdessen auch positive Seiten des Mankos hervorkehren, all dies ist vor allem einer Spezies unangenehm: den „Spezialisten“, die einzelnen Etablissements oder ganzen Gemeinden ihre „absolut zuverlässigen“ Ratschläge für die finanzielle Wiedergenesung aufdrängen — selbstverständlich gegen fettes Salär.
Es gibt mittlerweile Tausende von diesen sogenannten „Spezialisten“ oder „Krisenmanagern“, die hier eine Riesen-Super-Mega-Rutschbahn als neuen Anziehungspunkt, dort einen Erlebnispark, dann wieder gigantische Diskotheken oder Lokale nach Las-Vegas-Art projektieren und, wie Ariano Manuano betrübt anmerkt, „zum Umglück oft genug auch realisieren“.
Seit der Algenplage von 1988/89 hat sich die Zahl dieser Oberschlauen noch weiter vermehrt. Jüngste Folge ihrer Beratertätigkeit: die Eliminierung der letzten fünfhundert Meter Grünfläche an der vier Kilometer langen Uferpromenade Riminis, die ansonsten bereits vollständig mit Hotelkästen zugebaut ist. Auf dem Grundstück, das einst als Erholungskolonie für Kinder aus den Großstädten diente, soll nun ein Einkaufs- und Vergnügungszentrum entstehen.
Daß all diese hektischen Kompensationsmaßnahmen nicht nützen, wenn der Ruf einer einstigen Urlaubs-Perle, aus welchen Gründen auch immer, erst einmal gründlich ruiniert ist, das geht den durch alljährliche Zuwachsraten verwöhnten Gast- und Hotelwirten, Andenkenverkäufern und Juwelieren erst sehr langsam auf. Umsonst all die kostspieligen Einladungen an Top-Journalisten, Meeresbiologen und Klimatologen, mit deren publizistischer Hilfe man Qualität und Kostengünstigkeit adriatischer Vergnügen nachzuweisen hoffte.
Seit im Frühsommer 1989 in ganz Europa Jubelartikel mit dem Tenor „Rimini wird das Kalifornien Europas“ ('WAZ‘) und „Die Algen kommen nicht wieder“ erschienen und dann eben diese Algen pünktlich in der Woche der Publikation hochquollen, haben die publizistischen Werbemaßnahmen ihre Glaubwürdigkeit endgültig eingebüßt.
Nicht nur den Zeitungslesern und potentiellen Kunden, sondern auch vielen Tourismus-Managern und Redaktionen erscheint nun praktisch alles, was an positiven Meldungen herüberkommt, entweder von Blinden verfaßt — oder von Leuten, die sich mittels freier Kost und Logis vor Ort haben einwickeln lassen.
Und so haben mittlerweile auch wirklich gute und nicht geschönte Nachrichten keine positive Wirkung mehr. Etwa die Meßwerte von durchaus tourismuskritischen Umweltschutzeinrichtungen, wie des von Grünen betriebenen Ökologie- Schiffs „Goletta verde“, die den Gebieten zwischen Cesenatico und Cattolica gutes Wasser und saubere Strände attestieren.
Für den Hotelier-Verband von Rimini ist solche Taubheit im Ausland nur mit Hilfe einer Art Verschwörungstheorie zu erklären. Mit Ingrimm weisen die Adria-Verkäufer darauf hin, daß die Breitseiten gegen die traditionellen italienischen Urlaubsstrände vorwiegend von ganz bestimmten Zeitungen und Zeitschriften kommen: So hetzt die Springer-Presse schon seit Jahren mit allen Mitteln gegen italienische Urlaubsorte.
Die Herbergsväter vor Ort vermuten, daß „dieser Konzern wohl selbst irgendwelche Anlagen in anderen Ländern besitzt, wohin er nun die Touristen lenken will“ — so eine Verbandsstellungnahme in der 'Gazzetta di Rimini‘.
Ob dies nun für Springer zutrifft oder nicht: Ganz unrecht haben die Geschäftsleute der Massentourismusorte auf keinen Fall, wenn sie sich nun von eben jenen verlassen und verraten fühlen, die ihnen den Wohlstand gebracht haben — gleich
zeitig aber immer neue Investitionen verlangten: die Tourismus-Unternehmen, die Tour-Manager, und die Reisejournal-Redaktionen. „Jedes Jahr“, erinnert sich Herr Bambini vom Hotel „Ingrid“ in Riminis Via Regina Elena, „kamen die und versprachen uns neue Kunden, mehr Kunden, bessere Kunden — wenn, ja wenn wir dies ändern, jenes neu einrichten, hier einen Grill ins Freie setzen, da hinten einen Konferenzraum bauen etc.“
***
Der Stadtrat von Rimini, Ariano Mantuano kann das nur bestätigen: „Fast wie an den Jahresringen eines Baumes kann man in den Städten die einzelnen Phasen des Booms ablesen.“ Zuerst war da die Familienpension, das waren im Grunde die Wohnhäuser der Eigentümer, von Bauern oder Handwerkern, die im oberen Stockwerk ein paar Fremdenzimmer vermieteten. Dann, in den 60er Jahren, als Reisen nicht mehr nur das Privileg Weniger war, kamen die Reiseagenturen mit großen Busse oder Sonderzügen — unter der Bedingung, „daß die Pensionen sich zu Hotels mit mindestens 50 bis 60 Betten entwickeln“ — also bauten die Leute eben noch zwei Stockwerke auf die vorhandenen beiden Geschosse drauf, „mit möglichst dünnen Wänden, mehr hielt das Fundament nicht“.
Dann mußte der Innenparkplatz her, weil man auch Autoreisende betreute — „also ließen die Hotelbesitzer die damals noch dichten Pinienbestände abholzen und Parkplätze hinpflastern, danach kam eine Diskothek dazu, dann ein Minigolfplatz, undsoweiter undsofort.“ Danach mußte das Interieur verändert werden, um vor der Konkurrenz zu bestehen: „Ihr Kollege nebenan ist da schon wesentlich weiter!“ Jedes Zimmer brauchte jetzt Telefon, dann einen Fernsehapparat. In den 80er Jahren schlug dann die Stunde der Animateure, was weitere Areale erforderte.
Am Thyrrhenischen Meer passierte das gleiche, mit einer Zeitverschiebung von etwa zehn Jahren. Geplant wurde nach dem Motto: Dem Gast auf keinen Fall auch nur eine Sekunde Zeit zum Entspannen oder Nachdenken geben, das schadet dem Umsatz.
Erst spät erkannten die Gastwirte landauf, landab, daß sich am Ende die Ballung von immer mehr Komfort als kontraproduktiv erwies: „Da kamen plötzlich immer mehr Gäste morgens herunter“, erinnert sich Herr Bambini vom „Ingrid“, „und jammerten, daß der Gast links die halbe Nacht mit der Fernbedienung am Fernseher herumgespielt hat, der Nachbar rechts ständig lauthals telefoniert und der Mensch im Stockwerk drüber mitten in der Nacht sein Vollbad nimmt und aus voller Kehle dazu singt — und das alles bei den aus statischen Gründen dünnen Wänden.“
Der ehemalige Empfangschef vom „Palace Hotel“ in Terracina, auf der anderen Stiefelseite, südlich von Rom, erzählt mir wenige Tage später fast wörtlich das gleiche.
Die Tourismus-Manager reagierten auf solche Beschwerden aber keineswegs, wie es die Italiener erwarteten: Die Gäste wurden nicht beschwichtigt und beruhigt: „Die haben denen einfach gesagt, ihr habt völlig recht“, zitiert Herr Bambini vom „Ingrid“ in Rimini einige Reiseveranstalter, „und dann haben sie den Gästen gesagt: Aber wir haben die Lösung für euch — fahrt doch einfach in unsere neuen Anlagen in der Türkei oder in Tunesien, da gibt es all die Schwierigkeiten nicht, da könnt ihr noch echten Urlaub machen“.
Für die meisten Hotels in Italien bedeutete dies natürlich eine finanzielle Katastrophe. Viele von ihnen mußten dichtmachen. In so manchem einst blühenden Fremdenverkehrsort geht es wirtschaftlich nahzu senkrecht bergab. Das „Palace“ in Terracina hat schon vor einigen Jahren dichtgemacht — mittlerweile wurde in dem Gebäude ein Altenheim eingerichtet. Das „La Pagoda“ auf der anderen Seite des Städtchens ist auch eingegangen. Jetzt ist es ein Appartement-Haus. Das „Riva Gaia“ wurde vergangenes Jahr geschlossen, künftige Bestimmung noch ungewiß. Alles in allem ein Abbau von nahezu 30 Prozent der Bettenkapazität des 45.000-Einwohner- Städtchens.
***
Nach Berechnungen von Ariano Mantuano werden an der Adria ein Drittel bis die Hälfte aller Hotels und Pensionen dicht machen. Im Gegensatz zu dem Eindruck, der in vielen Medien mittlerweile gerne erweckt wird, sind die meisten Herbergen in den Küstenregionen Familienbetriebe und nicht etwa Konzern- oder Abschreibungsanlagen. Letztere dominieren nur in den Metropolen wie Rom, Mailand, Neapel, Turin oder Palermo. Selbst das durch Fellinis Filme legendäre „Grand Hotel“ in Rimini, mit seinen fünf Sternen, ist aus dem Besitz eines Mailänder Konzerns neuerdings wieder in die Hände dreier Familien übergegangen, deren Mitglieder selbst im Hotel arbeiten.
In der Regel hängen so an jedem Haus oft mehrere Dutzend Personen, von Söhnen und Töchtern, die im Büro oder am Empfang arbeiten, über die Tante und die Oma in der Küche bis zum Vetter, der den Parkplatz bewacht. Wenn solch ein Betrieb pleite macht, sitzt manchmal die ganze Familie mit einem Schlag auf der Straße.
Und dennoch: gerade der Umstand, daß es in den letzten Jahren schon an diversen Stellen gekracht hat, daß die Tourismusbranche in vielen Gebieten erheblich geschrumpft ist und viele ehemals vom Fremdenverkehr Abhängige mehr oder minder vor dem Aus standen, hat dazu geführt, daß der „Katastrophensommer“ ('La Repubblica‘) nicht wirklich zur Katastrophe geworden ist. So konnten sich die jetzt Bedrohten davon überzeugen, daß die Kollegen, die schon früher eine Bauchlandung gemacht haben, mittlerweile in anderen Berufen untergekommen sind, und daß weder die Oma noch der Vetter am Hungertuch nagen müssen.
In manchen Etablissements hat man die Erfahrung gemacht, daß es der Reputation nicht schadet, wenn man nicht mehr unbedingt auf die traditionelle Klientel setzt: Viele Hotels schicken ihre Werber mittlerweile schon gar nicht mehr in die BRD oder in die Schweiz, sondern lieber gleich bis nach Schweden, obwohl deren Gruppenreisende wegen angeblich notorischer Trunksucht keinen sonderlich guten Ruf genießen; und sogar im Prospekt des noblen „Grand Hotel“ in Rimini, einst mit seinen fünf Sternen „unnahbar wie ein Märchenschloß“ (so der Riminese Federico Fellini) weist man neuerdings eifrig darauf hin, daß es nebenan noch eine „Dependence“ gebe: Die habe zwar nur vier Sterne, sei dafür aber auch um ein gutes Drittel billiger ist als das Haupthaus mit seinen 300-900 DM pro Nacht und „mit Ausnahme des Schlafzimmers“ stünden einem „alle Einrichtungen des gesamten Hauses ungeschmälert zur Verfügung“.
Weitgehend gleichgültig läßt die Branche in den meisten Bade-Orten auch noch eine weitere Pleite: Der noch voriges Jahr als „vollwertiger Ersatz“ gepriesene Zustrom von erholungshungrigen Reisenden aus dem Osten hielt bei weitem nicht, was man sich, zumindest finanziell, davon versprochen hatte: Mittlerweile sind zwar unzählige Fremde aus Ungarn und Polen, aus der Sowjetunion und der DDR gekommen, doch die meisten übernachten im Bus, bringen ihre Stullen und ihre Limonaden von zu Hause mit und geben höchstens mal die zweihundert Lire fürs Klosett aus. Und selbst wenn sie im Hotel nächtigen, ist der Konsum minimal.
Viel schneller als bespielsweise die Bundesdeutschen, die ihre Brüder und Schwestern aus dem Osten immer noch von oben herab als Habenichtse belächeln, haben die Italiener die Not ihrer neuen Gäste akzeptiert, lamentieren nicht mehr über die neuen Reisenden und suchen sie auch nicht auszunehmen.
Im Gegenteil: Im Zuge der Abnabelung von der traditionellen Klientel entdecken sie alles, aber auch alles, was an den neuen Durchwanderern positiv zu vermerken ist — etwa daß „die nicht ein Fitzelchen Papier, nicht eine Cola-Dose, nicht ein Taschentuch fallen- oder liegenlassen“, wie zunächst perplex, dann erfreut, der venezianische Fremdenverkehrsdezernent feststellte — „ganz anders als etwa ihre westlichen Kollegen“.
„Teutsche“, zielte kurz danach das Satiremagazin 'Cuore‘ in einer Karikatur mit einem müllbeladenen Düsseldorfer Auto auf die ungeliebten BRD-Germanen, „Teutsche, haltet euer Land sauber — ladet euren Abfall in der Toskana ab!“
***
Manche Gemeinden erwägen bereits die Anstellung einer Art Öko-Polizei, die mit gestärktem Selbstbewußtsein den noch auf der alten Welle schwimmenden West-Urlaubern umweltschützerische Mores beibringen soll. Das wäre zwar für viele Landeskinder auch keine schlechte Idee, angesichts der von Eingeborenen allsonntäglich zurückgelassenen Papier-, Plastik- und Dosenberge in Wäldern und an Stränden.
Daß solche Aktionen jedoch ausdrücklich an die Adresse von Touristen gehen, belegt, daß es vielen Italienern derzeit vor allem um eines geht: das Land endlich wieder als ihr eigenes zu reklamieren — erstmals seit der Unterwerfung der Nationalökonomie unter das Diktat des Tourismus. Heute hängt fast ein Viertel des Bruttosozialproduktes direkt oder indirekt mit dem Fremdenverkehr zusammen. „Lieber die Algen als die Deutschen“, hatte schon vor einem Jahr 'Cuore‘ gefrozzelt.
Kein Zweifel: Die Touristen, die in den kommenden Jahren in den Süden fahren, werden eine andere Sorte Gastgeber vorfinden als sie es bisher gewohnt waren. Mittlerweile ist ein Verhältnis zu den kaufkräftigen Urlaubern aus dem Norden entstanden, das sich mit drei Sätzen ziemlich präzise charakterisieren läßt: „Jetzt erst recht“, „Wir sind schließlich auch wer“ und vor allem: „Bildet euch bloß nicht ein, daß wir auf euch angewiesen sind“. Die devote Unterwürfigkeit der vergangenen Jahrzehnte ist vorbei.
Glücklich, wer dieses Jahr seine Treue bewiesen hat und trotz aller Gegenpropaganda gekommen ist: „l'italofilo doc“ heißt dieser Typ mittlerweile: doc ist die Abkürzung des Wein-Gütesiegels „denominazione dall'origine controllata“, der lupenreine Italienliebhaber also. Der soll nun „besonders gepflegt werden“, so Italiens Tourismusminister Tognoli, und zwar auch dann, wenn er „nicht unbedingt zu den Reichen zählt, nicht viel hermacht, nicht viel da läßt — wichtig ist Beständigkeit und Bezug zum Land.“ Neue Töne in einer Region, in der man lange Jahre eher den „Wegwerftouristen“ (so das Reise- und Gourmet-Insert 'Gambero rosso‘ von 'Il manifesto‘) bevorzugt hatte. Neue Töne, nachdem sogar in Gebieten wie der Emilia Romagna, deren Gastlichkeit legendären Ruf genoß, die Beziehung zum Gast fast völlig abhanden gekommen war.
Natürlich wird es noch eine Weile dauern, bis sich das „neue Denken“ im Postgermanismus durchgesetzt hat. Vor allem die Lokalpolitiker sind da noch weit hintendran, weil ihre Bedeutung und ihr Einfluß direkt von der Blüte des lokalen Tourismus abhängt, der doch bisher in vielen Orten die einzige relevante Einnahmequelle war.
So trauen sich viele Stadträte und Bürgermeister kaum, konkrete Vorschläge zur notwendigen Umgestaltung der kommunalen Wirtschaft zu formulieren und durchzusetzen. In vielen Fällen stehen sie regelrecht paralysiert vor offensichtlichen Fehlentwicklungen, und schauen zu, wie auch noch die letzten Reste der bisherigen Ökonomie ruiniert werden.
***
Ein Musterbeispiel dafür ist wiederum Rimini: Nach dem Ausbleiben des Massentourismus setzt man dort jetzt ganz auf Kongresse und Großveranstaltungen. Das bringt zwar nominell einen Zuwachs an Übernachtungen — der kommunalen Wirtschaft aber hilft es kaum — im Gegenteil. So kamen etwa vergangenen Mai an die 50.000 Mitglieder einer religiösen Sekte in die Stadt. Die Hotels waren also voll. Doch konsumiert wurde nichts. Die frommen Beter mußten sich nämlich beim Essen und Trinken an bestimmte Regeln halten. Dafür waren aber tagelang alle Straßen mit Omnibussen verstopft, die Straßenränder anschließend mit Abfällen bedeckt. Bislang treu gebliebene Gäste flohen in Scharen. Gleichzeitig mußten die Hotels etlichen ihrer Stammkunden für die Maifeiertage „voller Bedauern“ absagen — „und die haben sich nun an anderen Orten einquartiert und sind uns als Kunden vielleicht auf Dauer verloren gegangen“, wie ein Empfangschef mißbilligend feststellte.
Und sollte es gelingen, wohlhabende Organisationen dafür zu gewinnen, ihre Kongresse in Rimini abzuhalten, wie etwa alljährlich die reiche Sozialistische oder auch die industrienahe Republikanische Partei, dann „gehen die bestimmt nicht in die Pinte um die Ecke“, wie der Wirt vom Hafenrestaurant bemerkt, „die fahren dochraus aufs Land nach Sant' Arcangelo oder San Leo in die VIP-Restaurants.“ „Statt wieder auf unsere wichtigste Ressource zu setzen, die Gastlichkeit der Romagnola, die persönliche Beziehung zu den Fremden“, sagt Antonio Mantuano vom „Costa del Sole“ ausnahmsweise in voller Übereinstimmung mit seinem ökologisch engagierten Bruder Ariano, „wollen sie halt den Großkotzen zu Diensten sein und sorgen damit für den Verfall des Mittelstandes.“
Wie paralysiert die Stadtväter derzeit sind, zeigt auch ihr unentschiedener Umgang mit einem anderen Phänomen: Seit mehreren Jahren hat sich der „Lungomare“, die weltberühmte Strandpromenade, zum städtischen Straßenstrich entwickelt. Fein säuberlich nach Nationen sortiert, bieten Männer und Frauen ihre Dienste an: am Anfang, nahe dem „Grand Hotel“, die BrasilianerInnen, meist Transvestiten, dahinter die ItalienerInnen, dann die ÖstereicherInnen — eine Erinnerung an den Umstand, daß die Adriaküste im vorigen Jahrhundert vom k.u.k.- Tourismus „kolonisiert“ wurde. Der nächste Straßenabschnitt gehört zunehmend Frauen aus der DDR, anschließend kommen Nigerianerinnen und Zentralafrikanerinnen; weiter Richtung Innenstadt die Philipinninen.
Um all diese Frauen zu begaffen, zieht ein ununterbrochener Lichterkorso von Autoscheinwerfern die Promenade entlang, unmittelbar an der Hotelzeile vorbei. Das Gehupe und Geschrei geht von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Nicht nur Familien mit Kindern nehmen davor Reißaus, sondern auch wer schlicht und einfach schlafen möchte. In den Zimmern auf der Straßenseite ist das unmöglich geworden.Doch die Stadtväter schaffen es nicht, hier einzuschreiten: sie können sich nicht darüber verständigen, wer mehr Geld in der Stadt läßt — die Familien und die Ruhesuchenden oder die Strichvoyeure.
Doch auch hier, auf der Prostitutions-Zeile, hat sich schon etwas von dem „neuen“ Selbstwertgefühl durchzugesetzt: Der oft erprobte bundesdeutsche Spruch „Ich zahl' dich in D-Mark, dafür will ich aber auch was geboten bekommen“ verfängt nicht mehr. Die Carabinieri, die häufig wegen Schlägereien hierher gerufen werden, wissen zu berichten, daß man(n) mit solchen Reden mittlerweile „keine Sonderleistungen mehr erntet, sondern immer häufiger höhnisches Gelächter“. Oder gleich ein unwiderrufliches „Verpiß dich, du Angeber!“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen