: „Verlassen wir Europa!“
■ Internationalismus statt Eurozentrismus EUROFACETTE
Europa ist in. Internationalismus ist out. Das letztere muß so sein, damit das erstere möglich ist. Denn ohne die konsequente Verdrängung aller internationalistischen Analysen ist ein positiver Bezug auf Europa undenkbar. Schließlich wirkt das „Gemeinsame Haus“, in das jetzt so scheinbar ungleiche KommunardInnen wie Thatcher und Walesa, Kohl und Gorbatschow einziehen wollen, von außen betrachtet wie ein dekadentes und stark bewachtes Horrorschloß. Vor allem in der Dritten Welt ist die Erinnerung an die Bilder in der Ahnengalerie dieses „Gemeinsamen Hauses Europa“ noch nicht ausgelöscht. Dort hängen die Porträts von Cortéz und Pizarro, die Bilder der Eroberer, Inquisitoren und Sklavenhändler, der Kolonial- und Kriegsherren, der Erfinder von Folterinstrumenten und Massenvernichtungswaffen, der Philosophen, die immer neue Rechtfertigungen dafür ersannen, und der christlichen Kirchenführer, die selbst den brutalsten Raubzügen in alle Welt noch ihren Segen gaben. Europa hat keine gemeinsame Kultur. Gemeinsam ist den Nationen, die jetzt künstlich zu einem „Europa“ zusammengeschweißt und nach außen abgeschottet werden, nur der Grad der Grausamkeit, mit dem sie bis heute anderswo ihre Gier nach Geld und Macht befriedigen.
Die spanischen Eroberer schnitten den Indianern Südamerikas Hände und Nasen ab, um damit ihre Hunde zu füttern. Die britischen Siedler ließen in Australien mit Typhus verseuchte Decken an die dortigen Ureinwohner verteilen, um sie auszurotten. Deutsche Truppen jagten die Ureinwohner von „Deutsch-Südwest-Afrika“ in eine wasserlose Wüste — 80.000 von ihnen starben. Holländische und belgische Kolonialherren verhielten sich ebenso typisch „europäisch“ in ihren Kolonien in Asien und Afrika. Alles Geschichte, lange vorbei?
Mitnichten: Die französische Kolonialarmee ermordete im Algerienkrieg (1954 bis 1962) ein Sechstel der algerischen Bevölkerung — insgesamt eineinhalb Millionen Menschen — unter anderem mit Napalm-Bomben. Und portugiesische Kolonialoffiziere gaben noch Anfang der siebziger Jahre zu, daß Massaker an der einheimischen Bevölkerung Angolas und Mosambiks, ähnlich wie in Vietnam, „an der Tagesordnung“ waren. An die Stelle offener militärischer Einsätze sind heute unauffälligere wirtschaftliche Waffen getreten. Allein im letzten Jahr finanzierte die verschuldete und im Elend lebende Dritte Welt die Regierungen und Banken der Industrienationen mit 50 Milliarden Dollar; netto, nach Abzug aller Investitionen und „Entwicklungshilfe“.
Frantz Fanon, der Theoretiker des algerischen Befreiungskampfes, hatte die Verdammten dieser Erde schon 1961 gewarnt: „Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt.“
Fanon verwies auf die unvergleichliche kriminelle Energie der Bande, die sich heute in dem „gemeinsamen Haus Europa“ zusammenrottet, und die sich nicht nur im Verhalten nach außen, sondern auch untereinander zeigt. Kein Kontinent der Erde hat auch nur eine annähernd hohe Zahl von Gewaltherrschern und menschenverachtenden Ideologien hervorgebracht wie dieses Europa. Von den Kreuzzügen bis zum Faschismus in Deutschland und Italien, von den Weltkriegen bis zu den Nachkriegsdiktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland. Vom aktuellen Besatzungsterror in Irland bis zum Baskenland. In dieses gemeinsame Haus Europa werden inzwischen auch die ehemaligen Gegner aus dem Osten gerne aufgenommen. Kein Wunder, haben sie doch mit dem Stalinismus Charaktereigenschaften nachgewiesen, die zum Rest der europäischen Geschichte passen. Und mit ihrer preußisch-militaristischen Form eines „realen Sozialismus“ und seiner „revolutionären“ Überwindung haben sie sich um dieses Europa noch insofern verdient gemacht, als alle Alternativen zu seinem aggressiven kapitalistischen Wirtschaftssystem nachhaltig diskreditiert wurden.
Trotz alledem ist Europa heute zum positiven Bezugspunkt des politischen Diskurses einer in jüngster Zeit eher national als international gesinnten Linken geworden. Schon konzentrieren sich einige darauf, mit einem Marsch durch die EG-Institutionen „ein anderes Europa“ zu schaffen, statt die internationalistische Utopie zu bewahren, daß es eine andere Welt geben muß, die nur gegen dieses Europa und seine Institutionen denkbar ist. Doch den Oppositionsgruppen und Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, die an sozialistischen Alternativmodellen festhalten und sich nicht dem eurozentrischen Geschwätz vom „Ende der Geschichte“ anschließen, schlägt zunehmend ungeduldigere und aggressivere Stimmung entgegen.
Daß Menschen in El Salvador oder auf den Philippinen weiter für eine andere Welt kämpfen, wird ebenso verdrängt, wie die imperialistische Geschichte und Gegenwart des europäischen Kapitalismus. Den 500. Jahrestag der Invasion in Amerika stellen die Herrschenden unter den euphemistischen Titel „Begegnung zweier Welten“, laden zu großen Jubelfeiern ein oder lassen den Papst erklären, die grausame Eroberung gebe insgesamt gesehen „ein strahlendes Bild“ ab. Erschreckend ist, wie schnell sich viele Linke hierzulande mit der Aufgabe aller Alternativvorstellungen zum herrschenden kapitalistischen (Welt-)Wirtschaftssystem und mit der damit verbundenen Verdrängung aller internationalistischen Überlegungen letzlich dieser europäischen Tradition anschließen. Karl Rössel
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