: Die Soziologie der Dinge
Ein internationales Günther-Anders-Symposion in Wien ■ Von Irene Bandhauer-Schöffmann
Ein kompromißloser Denker wird in Österreich nur akzeptiert, wenn ihm der Alles-ist-hin- Charme des lieben Augustin anhaftet. Im Land der „Heurigen-Apokalyptiker“ blieb Günther Anders ein Fremder. „Wir mögen ihn nicht besonders“, meint Universitätsdozent Peter Strasser aus Graz, „denn er mag unsere Weltuntergangsoffenheit nicht, er dringt auf Nüchternheit im Umgang mit den Megaschrecken der Neuzeit.“ So gesehen mag es noch mehr verwundern, daß das österreichische Gesetz, große Denker erst posthum zu ehren, durchbrochen und ein viertägiges Günther- Anders-Symposion (18. bis 21.10.) im Auftrag der Stadt Wien abgehalten wurde.
Der heute 89jährige Philosoph, der von den Nationalsozialisten in die Emigration getrieben wurde, kehrte 1950 nach Europa zurück. Und zwar nicht nach Deutschland, sondern nach Wien, wo sich seither sein ständiger Wohnsitz befindet. Konrad Paul Liessmann, Universitätsdozent für Philosophie an der Universität Wien und Verfasser einer Einführung in das Andersche Denken, wollte als Organisator des Symposions einen Anstoß zur akademischen Diskussion über sein Werk geben: Anders wurde bislang von der institutionalisierten Philosophie kaum zur Kenntnis genommen. Stattdessen erinnerte Barbara Hövener von der deutschen Sektion der „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ daran, daß Anders der Anti-Atom- und Friedensbewegung das intellektuelle Rüstzeug lieferte.
Moralische Erpressung durch die Bombe?
Durch den Eröffnungsvortrag von Rudolf Burger, Philosphieprofessor an der Wiener Akademie für angewandte Kunst, wurde ein Niveau der Anderskritik vorgegeben, das die weiteren Tage des Symposions bestimmte. Provokant formulierte Burger sein Unbehagen: Niemand, der feinere Nerven hat, könne das Wort Apokalypse mehr hören, schließlich sei sie zum „Sujet einer neuartigen, pseudophilosophischen Warnungs- und Erweckungsprosa“ degeneriert, „die weniger das Begreifen fördert, als die Ergriffenheit“. Burger konstatierte ein Paradox: „Anders' Philosophie der Bombe, die mit scheinbar unabweisbarer empirischer Evidenz die Zeit seit dem 6.August 1945 als Endzeit diagnostiziert, die nicht mehr überholbar ist, sondern allenfalls verlängerbar, und die daher auch als Philosophie nicht mehr überholbar ist, erscheint selbst in eigentümlicher Weise veraltet und verbraucht. Die These von der Antiquiertheit des Menschen ist selber antiquiert.“ „Hoffnung ist kein Prinzip“, schrieb Adorno gegen Bloch. „Verzweiflung und ihre trotzige Verleugnung sind auch keine“, referierte Burger gegen Anders. Dessen Denken sei keineswegs verdrängt, sondern im Gegenteil popularisiert worden, Teile seiner Philosophie seien Allgemeingut geworden, fast eine Art Klischee. Ist Günther Anders also zum Stichwortgeber einer fragwürdigen Kulturkritik herabgekommen? Ist der Schock der apokalyptischen Diagnose in die Wollust des Untergangs umgeschlagen und der ethische Ernst der Anderschen Philosophie in moralische Erpressung? Burger geht es um die Befreiung der Moral aus der erpresserischen Umklammerung der Apokalypsedrohung. Auch im Endzeitalter dürfe Katastrophenvermeidung nicht erzwungen werden: Hier ist „Zynismus eine sittliche Qualität“.
Im Gegensatz dazu Günther Schiwy, der seit fünfzehn Jahren als Lektor beim H.C. Beck Verlag die Schriften Günther Anders betreut: Daß die atomare Drohung die Wahlfreiheit des Menschen aufhebt, ist für ihn selbstverständlich. Es gibt eben keinen traditionelllen moralischen Diskurs mehr. Man mag das als erpresserisch empfinden aber: „Das ist einfach die Situation nach der Bombe.“
Nicht zuletzt an der Bedeutung „der Bombe“ scheiden sich die Anders-Befürworter und seine Kritiker. Der Vorwurf der Antiquiertheit, den Burger gegen die Andersche Philosophie erhoben hatte, wird von Schiwy nun seinerseits gegen die Burgersche Kritik gewandt: „Man kann mit Anders nicht umgehen, als gäbe es die Bombe nicht, und wenn man das macht, dann ist jede Kritik an Anders antiquiert, weil man im antiquierten Diskurs mit ihm verhandelt.“ Die Bombe ist immer schon eingesetzt, nicht erst bei der Explosion. „Wir können nicht so tun, als gäbe es sie nicht“, pflichtete Liessmann bei, „auch wenn wir de facto so leben.“ Burgers Überlegungen — die für einen Mann wie Robert Jungk nicht bloß zynisch (was Burger ja ohnehin beabsichtigt), sondern unerträglich sind — kreisen um den Zusammenhang von Heideggers Einschätzung des individuellen Todes mit der Anderschen vom Aussterben der Menschheit nach dem atomaren Schlag: „Gegen die moralisch erpresserische Formel vom drohenden Tod der Menschheit wäre an die schlichte Tatsache zu erinnern, daß die Perspektive eines jeden Menschen der Tod ist und daß durch alle einzelnen auch immer schon die sogenannte ,Menschheit‘ stirbt, nur eben diachron, nicht synchron. Wie die einzelnen leben und um ihr Leben kommen, ist nach wie vor das Problem, auch im Zeitalter der Bombe — nicht, daß alle sterben.“
Ist die Existenzialontologie des Menschen, wie sie Heidegger formulierte, wirklich mit der Bedrohung des gesamten Lebens zu vergleichen? Für Helmut Hildebrandt, der sich mit der Technikphilosophie bei Anders und Heidegger befaßte, läßt sich der banale Gehalt der Heideggerschen Ontologie — das biologische Faktum, daß alle Menschen sterblich sind — nicht mit dem menschengemachten atomaren Schlag messen.
Kritik der Andersschen Technikphilosophie
Günther Anders' Hauptwerk, Die Antiquiertheit des Menschen, durchzieht eine Theorie der Moderne, die brüskiert. Alles vergegenständlicht sich in einer Technik, die die Menschen unter ihr Gesetz zwingt. Für Konrad Liessmann ist daran noch heute die These von der Technik als dem eigentliche Subjekt der Geschichte aktuell. Dabei müsse man gar nicht an die Bombe denken, sondern könne beispielsweise die Sachzwänge beim Autobahnbau anführen. Die angeregte Diskussion über die Andersche Technikphilosophie konnte jedoch die leider wegen Krankheit ausgefallenen Vorträge von Gabriele Althaus und Margherita von Brentano nicht ersetzen.
Bodo von Greiff, Herausgeber der Zeitschrift 'Leviathan‘, befaßte sich mit „Produktion und Destruktion“ in der Anderschen Philosophie. Es ist kein Zufall, daß Anders und Marcuse, die wichtigsten Technikkritiker der Linken, von Heidegger beeinflußt sind. Anders' Gedanken zur Arbeit richten sich gegen den Technikoptimismus der Marxisten und sind ganz auf den tendenziellen Rückgang der Erwerbsarbeit gerichtet. Die Gegenbewegung, nämlich die konstante Zunahme neuer Formen von Erwerbsarbeit, sieht Anders nicht. Bodo von Greiff hält Anders' Technikkritik aber noch in weiteren Punkten für ergänzungsbedürftig: Anders frage ausschließlich nach den sozialen Effekten der Maschine, er bedenke nicht, „daß das maschinelle Arrangement selbst ein soziales Produkt ist“. Anders schildert die Entwicklung in Richtung leeres Leben, die Entwertung der Arbeit bis zur Knopfdrucktätigkeit. Er folgt dem Arbeiter in seine Wohnung, betrachtet die exotische Passivität des Fernsehens: Da sitzt der Eremit im Wohnzimmer, umgeben von einer Welt der Apparate.
Doch die Befriedigung, die Auto, Bildschirm und Surfbrett verschaffen, müssen neu überdacht werden. Der Windsurfer ist nicht in erster Linie der „Angestellte“ der Surfbrettindustrie, wie Anders schreibt. Bodo von Greiff gibt zu bedenken, daß Menschen nicht nur unter dem Zwang der Objekte stehen, sondern auch Lust aus dem technischen Arrangement der Welt gewinnen. „Vieles spricht dafür, daß Anders' negative Beobachtungen zutreffen, daß die Befriedigung an Automaten Ersatzbefriedigungen sind. Aber wo hört die Lust auf, wo fängt die Ersatzlust an?“ Die negative Anthropologie Günther Anders müßte auch hier immer neu formuliert werden.
Husserl, Heidegger und Bloch
Auf dem Symposion ging es auch um das intellektuelle Umfeld Günther Anders'. Die Beziehungen zur Philosophin Hannah Arendt (seiner ersten Frau), zu Brecht, Marcuse, Thomas Mann und Adorno blieben unberücksichtigt, näher eingegangen wurde hingegen auf Heidegger, Husserl und Bloch. 1921 kam Anders nach Freiburg, um bei Edmund Husserl zu studieren. Eckhart Wittulski aus Hannover referierte, welcher Art der Einfluß Husserls auf Anders war: Mißtrauen gegen philosophische Termini, gegen Esoterik der philosophischen Sprache und Detailfixiertheit. Anders dissertierte bei Husserl, doch das Angebot, sein Sekretär zu werden, lehnte er ab. Vielmehr setzte er seinen Studien bei Heidegger fort. „Sein und Zeit“ ist für Anders — wie der Berliner Helmut Hildebrandt ausführte — die Folie, auf der er seine eigenen Überlegungen anstellte. Er scheint geradezu „im Protest gegen Heideggers Philosophie, in der Technik keine Rolle spielt“, zu denken. Anders' Kritik an Heidegger gilt aber nicht nur seiner vorindustriellen „Zeugwelt“. Auch die Stellung des Menschen in der Welt beschreibt er konträr. Für Heidegger ist der Mensch der „Hort des Seins“, für anders der „Objekthirte“ — und das ist mehr als die Verdrehung eines Begriffs. „Dieser Titel“ — so Hildebrandt — „bezeichnet den Status des Menschen in der Welt, die selbst zum Apparat wurde und den Menschen als ein Teil des Apparates eingegliedert hat.“ Logische Konsequenz dieser Dezentralisierung und Entsubstanzierung des Menschen durch die Technik ist die Andersche Forderung nach einer Soziologie und Psychologie der Dinge.
Wo gibt es nun Gemeinsamkeiten? Günther Anders verwendet wie Heidegger ontologische und metaphysische Begriffe, meint Hildebrandt. „Heideggers Metaphysik ist in der Anderschen Philosophie dort gegenwärtig, wo er der Metaphysik des industriellen Zeitalters nachgeht. Sein ist Rohstoffsein. Das ist die metaphysische Grundthese des Industriealismus.“
Bei der Bloch-Anders-Verbindung handelt es sich — wie der Bloch-Kenner Burghart Schmidt ausführte — um eine freundschaftliche „Querverbindung“, nicht um ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Einig sind sich Anders und Bloch in ihrem Verhältnis zum Judentum und in ihrer Absage an eine philosophische Anthropologie. Auch im Methodischen sieht Schmidt eine Verwandtschaft der Anderschen Gelegenheitsphilosophie und des Blochschen Nebenbeiphilosophierens, aber bei Bloch war das stets nur Auftakt, Einstieg. Die Differenzen zwischen Bloch und Anders arbeitete Burghart Schmidt unter dem Motto: „Anders hat Recht behalten gegenüber Bloch“ heraus.
Recht behalten habe Anders in der Einschätzung der technischen Entwicklung gegenüber der Blochschen Utopie einer guten, anderen Technik, einer Allianztechnik. Anders sieht die Welt als System der Geräte, als Makrogerät, über das die Menschen nicht mehr frei verfügen können. Im Unterschied zu Bloch, der Medien rein inhaltlich erfaßte — als Träume der falschen Art — analysierte Anders mit den Begriffen Matritze und Phantom. Mit diesen Begriffen habe Günther Anders „in den fünfziger Jahren das getroffen, was uns den achtziger Jahren postmodern wieder geliefert wurde: von Baudrillard mit dem ,Aufstand der Zeichen‘, die ihre Bedeutung abschleudern.“
Daß Anders die Bedeutung der modernen elektronischen Medien sehr früh erkannte, darin war man sich auf dem Symposion einig. Doch ist seine Kritik des Fernsehens, die Anders heute selbst für revidierungsbedürftig hält, noch aktuell? Viele grundsätzliche Analysen sind nach wie vor gültig, nur scheinen wir heute keinen Anstoß mehr daran zu nehmen. Der Diskurs über Medien hat sich radikal verändert.
Symptomatisch dafür ist die Anders-Rezeption in Italien, über die Franz Haas (Universität Neapel) berichtete. In Italien, dem Land mit den meisten privaten Fernsehsendungen Europas, sind Anders' Theorien heute aus der Mode. Der zweite Band der Antiquiertheit des Menschen ist lange angekündigt, aber ein Erscheinungsdatum war beim Verlag nicht zu erfahren. Die Leitfigur der Antiatombewegung der sechziger Jahre konnte auch nach Tschernobyl keine Resonanz mehr finden.
Musik und Literatur
Das Anliegen der Andersforschung und somit auch des Wiener Symposions besteht nicht bloß darin, dem Werk Anders die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu schaffen, sondern auch darin, den bis jetzt unveröffentlichten Teil seines OEuvres überhaupt erst bekannt zu machen. So referierte Liessmann über Anders' antifaschistischen Roman Die molussische Katakombe, und Thomas Macho (Klagenfurt) stellte dessen musikphilosophische Habilitationsschrift vor, die möglicherweise auf Betreiben Adornos von der Universität Frankfurt abgelehnt wurde.
Anders' erst auszugsweise, in einem schmalen Band mit dem Titel Lieben gestern, vorliegende Tagebuchaufzeichnungen unterzog Wendelin Schmidt-Dengler, Wien, einer literaturwissenschaftlichen Analyse. Zentrales Thema in Lieben gestern ist das Einlassen der Philosophie auf den Sexus. In szenischen Bildern, in kleinen Dramen wird diese Auseinandersetzung beschworen, in einer Sprache voller Metaphern und Allegorien. „Das Problem der Philosophie wird durch eine literarische Figuration verdeutlicht, und die literarische Figuration wird triftig, da sie philosophisch verbindlich ist. Deutlich ist es die Sprachqualität dieser Texte, die sie philosophisch so attraktiv macht.“
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