piwik no script img

Weltentöne in c concert

Man nehme aus jedem Kulturbereich der Welt ein paar charakteristische Klänge und mixe sie zusammen — Musiksalat oder Völkerverständigung mit den Mitteln der Musik?  ■ MICHAEL GÖLLERT

I

m Sommer dieses Jahres flimmerte die Botschaft in mehr als 20 Ländern der Welt über den Bildschirm: „One World — One Voice“. 292 Musiker aus (fast) allen Erdteilen hatten per Playback ihren tönenden Beitrag an einem „Chain- Tape“ geleistet und so — wenn auch indirekt — miteinander gespielt. Der Engländer Kevin Godley, ehemals Schlagzeuger der Popgruppe 10 CC und heute als mehrfach ausgezeichneter Produzent und Regisseur von Videoclips tätig, war wochenlang mit einem mobilen Studio um den Globus gezogen und hatte dabei mehr als 70.000 Kilometer zurückgelegt. Im Gepäck hatte er ein 24-Spur-Band, das „Chain-Tape“, welches als Arbeitsgrundlage für die mitwirkenden Musiker diente. Dieses Band enthielt nicht mehr als einen Grundrhythmus vom Drumcomputer und einige Baßläufe von Gordon Sumner alias Sting. An jedem Aufnahmeort wurden die lokalen oder auch internationalen Größen des Musikgeschäfts eingeladen sich an der grenzenlosen Session der Superlative zu beteiligen. Die moderne Studiotechnik ermöglichte diese ungewöhnlichen Aufnahmen, die nach dem Prinzip des Kettenbriefs durch permantentes Hinzufügen von musikalischen Bausteinen entstanden: hier einige Gitarrenakkorde, dort ein Geigensolo in derselben Tonart usw. Trotz der zum Teil erheblichen kulturellen Gegensätze und der daraus resultierenden musikalischen Extreme entstand eine faszienierende Klangcollage. Welt-Beat im besten Sinne des Wortes.

Kevin Godley hat mit diesem beispiellosen multikulturellen Happening nicht nur eine beeindruckende Benefizaktion für den Kampf gegen die weltweite Umweltverschmutzung organisiert (ein Teil der Künstler verzichtet freiwillig auf die Tantiemen und stellt das Geld Umweltgruppen zur Verfügung). Sondern er hat auch das bisher größte weltumspannende Musikprojekt ermöglicht.

„World-Music: Sammel-Slogan für musikethnologische Fundstücke aus entlegenen Weltgegenden, die der jeunesse dorée der westliochen Wohlstandsgesellschaften Amüsier-Kicks geben. Auf der seriösen Ebene ist World-Music ,der Soundtrack unseres Alltagslebens im transkontinentalen Medien-Overkill‘ ('Die Zeit‘), Indiz für Querverbindungen zwischen folkloristischer Hochkultur und moderner Populärkultur.“ So definieren es Barry Graves und Siegfried Schmidt-Joos in ihrem Neuen Rock Lexikon.

Handelt es sich also um Welt-Beat, wenn die „Dissidenten“, eine Abspaltung der Münchner Ethno-Jazz- Rock-Gruppe „Emryo“, mit marokkanischen und algerischen Musikern versuchen, eine tanzbare Mischung aus westlichen funkigen und elektronischen Klängen und nordafrikanischen Gesängen herzustellen? Ist es Welt-Musik, wenn der indische Sitar-Virtuose Ravi Shankar und der klassisch ausgebildete Violinsolist Yehudi Menuhin eine Synthese aus indischer und europäischer Musik kreieren? Oder muß man Nusrat Ali Fateh Khans hymnische Sufi-Gesänge, die das westliche Publikum über alle sprachlichen und kulturellen Gräben hinweg in Trance versetzen, als Welt-Musik bezeichnen? Der Begriff muß weiter und zugleich präziser gefaßt werden.

Echte Welt-Musik entsteht beim Zusammentreffen gegensätzlicher musikalischer Kulturen mit dem Ziel, möglichst eine transkulturelle und transkontinentale Synthese zu schaffen. Dieser Versuch muß keineswegs beschränkt sein auf die „folkloristische Hochkultur“ und die „moderne Populärkultur“, wie Graves und Schmidt-Joos (vereinfacht) betonen. Auch auf den unterschiedlichen Ebenen von E- und U-Musik westlicher oder östlicher Prägung hat der musikalische Dialog bereits begonnen. Und wenn diese neue, möglichst inspirierte Musik alte Hörgewohnheiten bei den Musikkonsumenten aufbrechen und darüber hinaus den Abbau von Vorurteilen („klassische Musikkultur gibt es nur im Westen“) durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit fremden Kulturen anregen und fördern kann, handelt es sich um Welt-Musik par excellence.

N

och bevor Marshal McLuhan in den sechziger Jahren seine Thesen vom Einfluß der Massenmedien auf den Menschen und die Welt des 20. Jahrhunderts verkünden konnte, hatten bereits einige Jazz-Musiker Ende der fünfziger Jahre Kontakt zu außereuropäischer Musik. Einer dieser Pioniere war der Saxophonist John Coltrane, der sein Sopransaxophon wie eine Shenai (asiatisches Blasinstrument) klingen ließ. Coltrane war es auch, der zusammen mit Miles Davis und anderen eine neue Art des Musizierens in den Jazz einführte: die modale Musik, das heißt, letztlich auf nur einem Akkord basierende Improvisationen, wie er sie in Asien kennengelernt hatte. Die Grundlage der europäischen Musik besteht im Gegensatz zur modalen aus verschiedenen, ständig wechselnden Akkorden.

In den sechziger Jahren waren es die Beatles, die den Wahrheitsgehalt von McLuhans prophetischen Theorien bestätigten. Sie ließen ihren Hit „All you need is love“ als erste weltweit via Satellit im Fernsehen ausstrahlen. Die Welt war so tatsächlich zum „globalen Dorf“ zusammengeschrumpft. Über den weltweiten Konsum hinaus gingen die Beatles aber auch im musikalischen Bereich neue Wege. Schon seit einigen Jahren hatte sich George Harrison mit klassischer indischer Musik beschäftigt und schließlich selbst begonnen, von seinem Lehrer Ravi Shankar das Sitarspiel zu erlernen. Einige seiner Kompositionen für die Beatles widerspiegeln diesen Einfluß und lösten eine „indische“ Mode- und Musikwelle aus.

Auch in den Köpfen — insbesondere der jungen Europäer — hatte sich etwas geändert: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Musikkultur (die natürlich immer noch andauert) wurde ausgedehnt auf außereuropäische Klänge. Nach dem Hören von Flamenco, irischer Volksmusik und Zigeunerjazz wuchs die Neugier zunächst auf asiatische, speziell indische Musik.

Insbesondere Einzelpersonen im Mediensektor wie zum Beispiel der Publizist und Leiter von Jazz- und Welt-Musik-Festivals Joachim Ernst Berendt leisteten und leisten hier echte Pionierarbeit. Auch der Musiker und Autor Peter Michael Hamel, der manchen vielleicht noch als Kopf der bahnbrechenden Gruppe „Between“ und ihrer intelligenten Fusion aus Jazz- und Ethnoklängen in Erinnerung ist, muß in diesem Zusammenhang genannt werden. Mit Publikationen, Plattenproduktionen und Festivals wie „Jazz meets the world“ machten sie sich besonders verdient um die Vermittlung dieser fremden und neuen Musik.

Aber es waren immer noch vor allem die Jazzmusiker und die Avantgardekünstler sowie einige Komponisten und Musiker aus dem Bereich der E-Musik, die am intensivsten an der großen musikalischen Begegnung mit der Welt teilnahmen. Namen wie Art Blakey (er starb erst kürzlich), Don Cherry und John McLaughlin stehen für viele andere mehr aus dem Jazzbereich. Sie studierten afrikanische Perkussion, Polyrhythmik und die modale indische Musik. John McLaughlin tat sich mit indischen Musikern zusammen und veröffentlichte mit der Gruppe „Shakti“ drei LPs. Terry Riley, Steve Reich und Philipp Glass mit ihren experimentierfreudigen Spürnasen in Sachen Avantgarde zog es nach Afrika und Bali. In ihrer Minimal-Musik finden sich deutliche Spuren ihrer tönenden Safaris. Auch Oliver Messiaen, Karl-Heinz Stockhausen und Eberhard Schoener als Vertreter der experimentell orientierten E-Szene wollten nicht abseits stehen und peppten das überlieferte klassische Hardcorematerial mit südindischen Rhythmen, intuitiven Improvisationen und Obertonklängen auf.

Erst in den siebziger Jahren begannen die ersten Rockmusiker ihre ausgetretenen musikalischen Pfade zu verlassen. Dazu gehörten Stars wie der Amerikaner Carlos Santana oder die als Insider-Geheimtip gehandelten deutschen Rock-Jazzer von der Gruppe „Embryo“. Aber ihnen ging es — wie auch vielen Kollegen zuvor — nicht nur um die tönende Botschaft. Der fremde Lebensstil wurde erlebt, die fremde Religion wurde studiert und zum Teil adaptiert. Santana begann, angeregt durch seinen Guru Sri Chimnoy, zu meditieren. Die „Emryo“-Mitspieler zogen in einem klapprigen Bus durch Asien und spielten zusammen mit einheimischen Musikern wie zum Beipsiel dem „Karnataka College of Percussion“ ihre Platten ein.

Letztlich gipfelte diese Bewegung in der Musikszene in zwei großen Trends: in der sogenannten „New Age Musik“ und im „Ethno-Beat“. Schließlich vollziehen in den achtziger Jahren immer mehr Rockmusiker diesen akustischen Brückenschlag. Die Zeit war wohl reif für diese Entwicklung, denn ein neuer Trend mußte nach Reggae, Punk, New Wave und New Age für den ewig hungrigen Markt und vor allem die großen Musikkonzerne, deren Plattenabsätze inzwischen in den Keller gegangen waren, gemacht werden.

Aber Welt-Musik ist mehr als nur ein kurzlebiges Produkt, das das Geschäft ankurbelt. Diese universelle, multikulturelle und die voneinander abgekapselten Musikkulturen vereinende Musik birgt auch eine gewisse (Spreng-)Kraft in sich. Der alte aufrührerische Geist, das „alte Fieber“ (Wolf Maahn), und damit die textliche und musikalische Essenz der Rockmusik ist längst in leeren Posen erstarrt und nahezu restlos vermarktet. Der Funke glimmt jedoch noch in der Welt-Musik. Zudem kann sie durchaus zum Vehikel für politische Botschaften werden, ganz pragmatisch, vielleicht weniger radikal, aber dennoch von einer positiven Utopie beseelt. Beispiele dafür sind das Rockfestival „Tribute to Nelson Mandela“, auf dem viele Künstler aus der Szene auftraten, sowie die eingangs erwähnte Aktion für internationalen Umweltschutz „One World — One Voice“.

Welt-Musik überbringt eine friedliche Botschaft: Laßt uns einander zuhören und miteinander musizieren statt uns gegenseitig zu unterdrücken, auszubeuten und zu bekriegen. Mit dieser Botschaft wird Welt-Musik sicherlich zu einem wichtigen und anhaltenden Trend in den neunziger Jahren. Eben Welt- Musik für Welt-Bürger.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen