: Beflügelter Messias
■ Händels „Messias“, prächtig und barockgetreu in der Neustadt
Der „Durchschnitts-Messias“ sieht meist aus wie folgt: Eine ambitionierte OrtskantorIn ruft Solisten und ein „Mucker-Orchester“ aus der Umgebung zusammen, um einmal mit seinem Laienchor diesen beliebten Schlager aufzuführen. Das Ergebnis in der Regel: Gnadenlose Mittelmäßigkeit. Die Bremer Neustadt ist zudem im „Klassik“-Bereich eher kulturelles Entwicklungsgebiet. Und Kantorin Sigrid Bruch kannte ich bis zum vergangenen Sonntagabend noch nicht. Umso größer war für mich die Überraschung, in der St.Pauli-Kirche einen „Messias“ in barocker Aufführungspraxis zu hören, der höchsten Ansprüchen genügte!
Der Chor war nach barockem Vorbild aufgeteilt: Den Löwenanteil bestritt ein 18-köpfiger „Favoritchor“; der Rest der Kantorei fungierte zur gelegentlichen Klangverstärkung als „Capellchor“. Die Leistung braucht den Vergleich mit professionellen Chören nicht zu scheuen: Eindrucksvoll war die Leichtigkeit, mit der — gerade auch vom Capellchor — schwierigste Koloraturen gesungen wurden, sowie die mühelose Bewältigung barocker Gestaltungstechniken. Hier wurde sicher eine ungeheure Probenarbeit investiert. Geradezu beflügelnd auf den Chor wirkten auch die Vorgaben der Gesangssolisten: Susanne Moldenhauer, Graham Pushee (Altus), Ian Honeyman und Stephan Schreckenberger.Es war ein seltener Glücksfall, international renommierte SängerInnen in solcher Umgebung hören zu dürfen. Das Ensemble „Steintor-Barock“ musizierte stilgerecht in der Umsetzung barocker Dynamik, Artikulation und Phrasierung (Continuogruppe, Bläser, Pauken, Trompetensoli! ). Schade nur, daß das Zusammenspiel der Violinen manchmal arg wackelte.
Sigrid Bruch gelang es, ein stimmiges Konzept überzeugend umzusetzen: Dramatische Geschlossenheit erreichte sie durch ein „attacca“-Musizieren in den einzelnen Szenen, die innerhalb der drei Teile durch Pausen sinnvoll voneinander abgegrenzt wurden. Eine bewundernswerte Aufführung, für die sich das Publikum mit standing ovations bedankte.
Gunnar Cohrs
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