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Die Talsohle ist auch in Riesa noch nicht erreicht

Sanierungskonzept für die Stahlverarbeitung und die Industrieregion/ Goldene Lage der grauen Stadt/ Treuhandzentralismus bereitet Unsicherheiten  ■ Aus Riesa Detlef Krell

Die graue Stadt an der Elbe liegt an einem goldenem Ort. Die Landeshauptstadt Dresden, außerdem Chemnitz und Leipzig, sind nur eine Autostunde entfernt und Berlin, München und Prag gleichfalls schnell zu erreichen. Hier kreuzen sich Eisenbahnlinien und gehen die Elbkähne auf dem zweitgrößten Binnenhafen der ehemaligen DDR vor Anker. Die Schlote des Stahlwerkes und die Karrees der Betonwohnhäuser prägen das Bild der Stadt. Als in den 1830er Jahren die erste deutsche Ferneisenbahn von Leipzig nach Dresden gebaut wurde, schlug die Geburtsstunde der Metallurgie in Riesa.

Darin wurzelt auch der spätere Stammbetrieb des Rohrkombinats Riesa. Schließlich hatte das Kombinat insgesamt mehr als 30.000 Beschäftigte; von hier aus wurde auch die Stahlverarbeitung in anderen sächsischen Standorten, etwa Freital und Chemnitz, geleitet. Doch um die Jahreswende 1989/90 entschlossen sich die einzelnen Kombinatsbetriebe, eigene Wege zu gehen. Von den gegenwärtig 9.921 Beschäftigten des früheren Stammbetriebes werden nur 5.382 eine Zukunft in der neuen Stahl- und Walzwerk AG finden können.

Zu den ersten, die gehen mußten, gehörten die 400 ArbeiterInnen aus Polen und Mocambique. Morgen ist es ganz aus mit dem Stahl in Riesa, befürchten hier viele. Würde die gegenwärtige Produktionspalette aus nahtlosen Stahlrohren verschiedener Sortimente beibehalten werden, müßten 600 bis 700 Millionen D- Mark in die Stahl- und Walzwerk Riesa AG fließen.

Vorstandsvorsitzender Wolfgang Helm fährt mit einem umfangreichen Sanierungskonzept in der Tasche zur Treuhand nach Berlin: „Wir setzen etwa 5.000 Mitarbeiter frei. Zu den Firmen, die bereit sind, sich hier in Riesa anzusiedeln, gehört die Arbonia Forster GmbH aus der Schweiz. Ich erwarte, daß dem Vertragsabschluß mit dieser Firma von der Treuhand nichts mehr entgegensteht.“ Die Schweizer Firma will in Riesa etwa 1.100 neue Arbeitsplätze schaffen. Auf dem Gelände zweier ehemaliger Rohrwerke würde sie ein neues Werk aufbauen und parallel dazu noch 1990 mit der Produktion moderner Heizkörper und Metallküchen beginnen. Schon jetzt sollen Riesaer KollegInnen in die Schweiz fahren und bei Arbonia lernen.

Doch bisher schweigt die Berliner Treuhand zu den Sanierungsvorhaben der Stahl- und Walzwerk Riesa AG. „Wir haben die D-Mark-Eröffnungsbilanz am 31.Oktober übergeben, und ich werde mich diese Woche bemühen, eine Antwort zu bekommen.“ Hinter dem Konzept steht Zeitdruck, „und wir arbeiten unabhängig von der Treuhand bereits an der Realisierung. Trotzdem brauchen wir natürlich deren Zustimmung“ — immerhin ist auch eine Ablehnung möglich.

Als kürzlich Gewerkschaft und Vorstand über einen Interessenausgleich verhandeln wollten, hat die Treuhand schlicht gefehlt. „Ich teile den Standpunkt von Ministerpräsident Biedenkopf, daß die Treuhand in die Verantwortung des Landes Sachsen gehört, weil man das nicht aus der Zentrale lösen kann. Zum Riesaer Konzept gibt es die Zustimmung der Kommune und des Landkreises, und ich war auch im Ressort Wirtschaft in Dresden. Insofern fühle ich mich sicher. Man muß doch froh sein, wenn überhaupt eine Firma nach Riesa kommt.“

Kurz vor Vertragsabschluß steht er mit den Mannesmann-Röhrenwerken. „Unser Ziel ist, daß Mannesmann zum 1.1.91 mit 51 Prozent in die Rohr GmbH Zeithain einsteigt.“ Mannesmann würde mit der Modernisierung der Röhrenfertigung etwa 1.900 Arbeitsplätze und die Präsenz des Betriebes auf dem dichten Röhrenmarkt erhalten. Auch das Engagement weiterer mittelständischer Firmen auf dem Riesaer Stahlstandort ist angezeigt, aber immer vorausgesetzt, die Treuhand nickt.

„Als Frau darf ich bald keine Nachtschicht mehr machen“

Noch rollen die weißglühenden „Makkaroni“ über die Mittelstraße des Stabwalzwerkes. Während die Männer blitzschnell die glühenden Stangen dirigieren, hat Ines Bürger, die dreiundzwanzigjährige Kranführerin, eine Pause. Kurzarbeit ist angesagt, hier wie in allen Bereichen der Stahl- und Walzwerk Riesa AG. „Wir sind nur noch 25 Leute in der Brigade, alles junge Kollegen. Früher waren wir fast doppelt so viel.“ Eine Zukunft „als Mädchen in einem Männerberuf“ kann sie sich nicht vorstellen. „Man sagt zwar, Kranführer werden gebraucht, aber als Frau darf ich bald keine Nachtschicht mehr machen.“ Um etwas Neues hat sie sich Ines bisher nicht gekümmert. Und was in der druckfrischen 'Stahlzeitung‘ steht, das Sanierungskonzept, hat sich bis zur Mittelstraße noch nicht herumgesprochen.

Walzstahl, ist dem Blatt zu entnehmen, wird in dem Maße benötigt, wie der Bauboom im Osten einsetzt. Bauunternehmen und mittelständische Industrie kommen als Abnehmer in Frage.

„Aufträge für die nächsten Jahre haben wir in der Tatsache“, erklärt Vorstandsmitarbeiter Gisbert Schneider. Chancen auf dem innerdeutschen Markt rechnet sich der Vorstand für den Stahlformguß, für Stahlrohre und Walzstahl aus. Die Stahlformgießerei kann handgeformte Gußstücke bis zu fünfzig Tonnen Gewicht herstellen — zum Beispiel Schiffsschrauben. Die Auslieferung fertig bearbeiteter, bis zu siebzig Tonnen schwerer Stücke könnte, wie Gisbert Schneider erläutert, den Marktanteil von gegenwärtig etwa 25 Prozent in der Ex-DDR erhöhen.

Für die Stahlerzeugung ist noch ein Siemens-Martin-Ofen in Betrieb, der ein Wohngebiet mitbeheizt. Gisbert Schneider „weiß nicht, ob in der Welt noch jemand mit so einer uralten Technik Stahl erzeugt.“ Energiefresser aus den fünfziger Jahren sind die vier Elektroöfen.

Eine Analyse der Wirtschaftsvereinigung DDR-Stahl von Anfang Oktober empfiehlt den RiesaerInnen, die Stahlerzeugung von 680.000 Tonnen im Vorjahr auf 120.000 Tonnen im Jahre 1992 zurückzufahren. Bis 1993 wird der Studie zufolge die Stahlerzeugung im Osten Deutschlands auf zwei Drittel schrumpfen müssen.

Bis zum 1.Mai nächsten Jahres sollen noch etwa 3.000 StahlwerkerInnen ihrem Arbeitsplatz den Rücken kehren. Unter ihnen werden sehr viele Angestellte sein, eine Spätfolge zentralistischer Kontrollhierarchie. „Aber wir wollen diese Leute nicht einfach in die Kommune entlassen und sagen, nun seht zu, wo Ihr unterkommt“, betont der Vorstandsvorsitzende. Die Stahl- und Walzwerk Riesa AG sitzt in der Gesellschafterversammlung einer regionalen Qualifizierungs GmbH, neben dem Landratsamt, der Stadt und allen Gemeinden, den Betrieben der Region und auch den Einsteigern Mannesmann und Arbonia. Weitere Investoren können eintreten.

Angebot für Ingenieure und Wissenschaftler

Im Landkreis Riesa mit seinen knapp 100.000 EinwohnerInnen haben bereits 9.000 Menschen ihre Arbeit verloren, mehr als 26.000 sehen mit Kurzarbeit ihrer Entlassung entgegen. „Die Talsohle ist noch nicht erreicht“, kündigt Franz Wegener, zweiter Stellvertreter des Landrates und FDP-Mitglied, an. Seine Aufgabe sieht er darin, Investoren zu finden und ihnen Standorte anzubieten. Auf die künftige Wirtschaftsstruktur und nicht auf den blauen Dunst hin sollen die Arbeitslosen geschult werden. Dafür läßt es das Landratsamt nicht an Phantasie fehlen.

Neben der Qualifizierungs GmbH bietet die Firma Promotech aus Nancy (Frankreich) ihre Leistungen für einen Technologiepark an. „Ein Angebot für Ingenieure und Wissenschaftler. Dort werden Leute mit Gründerideen gesucht. Sie erhalten für sechs Monate ein Zimmer in diesem Zentrum und müssen in dieser Zeit eine Firma gründen, oder sie gehen wieder. Das ist die Chance, unser geistiges Vermögen in Projekte der Altlastensanierung, des ökologischen Umbaus zu investieren. Frankreich habe mit diesen Parks sehr interessante Erfahrungen“, schwärmt der Dezernent Wegner, der über den Runden Tisch aus dem Stahlwerk in die Politik gekommen ist.

Abwarten ist nicht seine Sache, also bereiste er einige Tage lang den deutschen Süden und suchte das Gespräch mit den Industrie- und Handelskammern und potentiellen Investoren. Im Gepäck trug Wegener ein Prospekt, das den Landkreis umfassend vorstellt, seine Vorzüge preist und Standorte für Industrie und Gewerbe anbietet.

„Dieses Konzept greift nicht in die Selbstverwaltung der Gemeinden ein“, es sei mit den Gemeinderäten und der Bevölkerung erarbeitet worden. Ökologische „Aufsicht“ führt eine Forschungsgemeinschaft der Technischen Universität München und TU Dresden. „Die Gegend um Riesa kann man bald nicht mehr verderben“, gibt Wegener zu, aber dennoch könne man sehr viel verbessern. „Wir wollen eine weitere Zersiedelung verhindern. Auf einen Flächennutzungsplan für den ganzen Landkreis müßten wir fünf Jahre warten. Damit läßt sich kein Investor vertrösten. Also haben wir Teilnutzungsplätze in Auftrag gegeben.“

Eigentumsfragen ließen sich hier etwas sicherer beantworten als beispielsweise in der Landeshauptstadt, aber Wegener hält auch nichts davon, nur auf hohe Verkaufserlöse zu warten. Für zehn Gewerbe- und Industriestandorte haben sich inzwischen Interessenten gemeldet. Man müsse schon rechnen, was mehr bringe, ein einmalig hoher Verkaufspreis oder die dauerhafte Nutzung der Flächen. Die Investoren, das zeige die Resonanz, danken es.

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