INTERVIEW
: Homo-Sowjetikus mit Vakuum in der Seele

■ Gespräch mit einem sowjetischen Psychologen über die Folgen der Perestroika für Menschen und Seelen-Forscher

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Andre Bruschlinski ist seit einem Jahr Direktor des Psychologischen Instituts an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er beschäftigt sich mit der Psychologie des Denkens. Zur Zeit reist Bruschlinski auf Einladung der Deutschen Forschungsgesellschaft durch die BRD.

Die taz sprach mit ihm in der Bremer Universität.

Foto: Jörg Oberheide

taz: Mit welchen Themen beschäftigt sich ein Psychologe im Land der Perestroika?

Andre Bruschlinski: Wir kümmern uns zur Zeit schwerpunktmäßig um die Erforschung der Persönlichkeit und der Sozialpsychologie.

Viele reden jetzt davon, daß sich in der Sowjetunion ein neuer Typ Mensch herausgebildet hat — der Homo-Sowjetikus.

So kann man das nicht sagen. Aber Sie haben insofern recht, daß es eine Reihe psychologischer Besonderheiten gibt.

Welche?

In der Sowjetunion ist allgemein verbreitet, daß man immer auf Hilfe von oben wartet. Der Staat soll alles erledigen. Die Eigeninitiative der Leute ist ganz gering.

Trotzdem meinen Sie, daß es den Homo-Sowjetikus nicht gibt?

Über einen besonderen Typ, der sich von dem westlichen Menschen unterscheidet, kann man jedenfalls nicht reden.

In der Sowjetunion war es lange Jahre üblich, das eine zu sagen, das andere zu tun, das dritte zu denken. War das nicht ein Zustand ständiger Schizophrenie?

Ich kann nur über die wissenschaftliche Intelligenz urteilen. Ein Teil von ihnen hat wirklich ein Doppelleben geführt. Doch für sie war das ein rein äußerliches Zugeständnis an die politische Konjunktur. In Wirklichkeit lebten und taten sie das, was sie für richtig hielten. Sie wußten natürlich, wie verlogen sowohl das Stalin-als auch das Breshnew- Regime war.

Wie hat sich dieses Doppelleben auf die Psyche der einfachen Bevölkerung ausgewirkt?

Da sieht es schwieriger aus. Von den einfachen Leuten haben viele ernsthaft an Stalin geglaubt, auch noch nach seinem Tod und später an Breshnew. Sie sind jetzt schwer enttäuscht und machen eine grundlegende Veränderung des Bewußtseins, des Denkens und der Psyche durch. Die meisten von ihnen sind depressiv.

Die Perestroika hat auch viele Mythen, mit denen die Leute lebten, beseitigt. Gibt es Untersuchungen über die Auswirkungen?

Unser Institut hat erst vor kurzem ein neues Laboratorium eingerichtet, wo wir Fragen der Ethnopsychologie und der Nationalitätenkonflikte erforschen wollen. Mit den Untersuchungen haben wir gerade erst angefangen. Aber allgemein kann man sagen, daß ein Mensch, der seinen Glauben an Ideale verliert, ein Vakuum in seiner Seele hat. Das ist der schlimmste Zustand, den es gibt.

Die Perestroika läuft ja schon fast fünf Jahre. Hätte man da nicht schon konkrete Ergebnisse erwarten können?

In der Breshnew-Zeit, umso mehr unter Stalin, war es unmöglich solche Forschungen durchzuführen, auch noch zu Beginn der Perestroika. Erst jetzt, wo die äußeren Bedingungen gegeben sind, erforschen wir all die Probleme der Gegenwart, auch Drogenabhängigkeit, Alkoholismus und die verschiedensten Konflikte.

Was hat sich noch verändert in Ihrer Arbeit?

Eine Masse von Tabus, die unsere Arbeit behindert haben, sind weggefallen. Wir können jetzt z.B. Fragen des Unbewußten angehen. Außerdem werden endlich Autoren wie Freud und Jung veröffentlicht. Unter Stalin waren darüber hinaus Sozialpsychologie, die Geschichtspsychologie, die Rechtspsychologie sowie die Ethnopsychologie verboten. Und auch danach gab es große Einschränkungen.

Und jetzt gibt es gar keine Beschränkungen mehr?

Fast keine, außer finanziellen.

Es ist ja bekannt, daß Posten, wie der des Direktors, nur aufgrund von Parteientscheidungen besetzt werden. Sind Sie in der Partei?

Ja.

Und die hat Sie vorgeschlagen?

Nein. Jetzt ist ja Perestroika, da wird der Direktor gewählt. Es gab sogar eine geheime Abstimmung. Mein Hauptgegner war der bekannte Psychologe Sabrodin, er wurde von der Parteiführung unterstützt. Aber trotzdem hat man mich gewählt. Das war noch vor kurzem undenkbar.

Mischt sich die Parteiführung auch in andere Dinge ein?

Früher hat sie sich eingemischt. Ein Beispiel dafür ist der Parteibeschluß gegen Kinderpsychologie und Testpsychologie. Das ist jetzt endlich vorbei.

Werden Sie weiter Parteimitglied bleiben?

Ich weiß noch nicht. Noch gibt es eine Reihe von Argumenten dagegen wie auch dafür. Und die neuen Parteien gründen sich gerade erst. Fragen und Übersetzung Birgit Ziegenhagen