Juden werden gegen Asylbewerber ausgespielt

Weil die neuen Bundesländer insgesamt 20 Prozent der Asylbewerber und Aussiedler übernehmen müssen, finden sich für Juden aus der Sowjetunion keine Wohnheimplätze mehr/ Das Recht auf „ständigen Wohnsitz“ gilt nur noch in Ost-Berlin  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Seit der deutsch-deutschen Hochzeit haben es die aus der Sowjetunion nach Deutschland ausreisenden Juden schwer. Weil im Einigungsvertrag versäumt wurde, das Recht der jüdischen Neueinwanderer auf einen ständigen Wohnsitz in den neuen Bundesländern auch für die Zukunft festzuklopfen, sind die nach dem 3.Oktober gekommenden Emigranten faktisch rechtlos.

Schlimmmer noch: Wie Klaus Pritzkoleit, Mitarbeiter des Ausländerbüros in Ost-Berlin, mitteilte, weigern sich die neuen Bundesländer immer häufiger, jüdische Emigranten aufzunehmen, es sei denn, sie werden auf die seit der Vereinigung geltenden Quoten von Asylbewerbern und deutschstämmigen Aussiedler angerechnet. Diese Argumentation ist im Westen nichts Neues. Doch weil die aus der Sowjetunion kommenden Juden weder Vertriebene noch Asylbewerber sind, sind solche Quotierungsvorschläge nichts anders als Ausreden, keine Juden aufzunehmen.

Zum Beispiel Sachsen: Laut Einigungsvertrag muß dieses bevölkerungsreiche Land von den insgesamt 20 Prozent Asylbewerbern und Aussiedlern, die auf die fünf neuen Länder verteilt werden, 30 Prozent übernehmen. Von (voraussichtlich) 144.000 Übersiedlern und Asylbewerbern pro Jahr in den neuen Ländern entfallen also auf Sachsen 40.000 deutschstämmige Aussiedler und 8.000 Asylbewerber. In einem Telefax des CDU-Innenministers Rudolf Krause vom 12.Oktober wurden deshalb die Kommunen angewiesen, für die bald eintreffenden Gruppen Übergangswohnheime anzumieten und zu betreiben. In diesem Telefax geht Krause auch auf den Zuzug jüdischer Emigranten ein.

Der „Arbeitsstab Innenministerium, Referat 26“ des Landes Sachsen schreibt am 12.10. an alle Regierungsbevollmächtigten, Landräte, Bürgermeister und Polizeistellen folgendes: „In den vergangenen Tagen mehren sich Bestrebungen, unter Umgehung der Behörden des Landes Sachsen ausländische jüdische Bürger in Übergangswohnheimen bzw. Ausweichunterbringungsobjekten der unteren Verwaltungsbehörden unterzubringen. Jede Unterbringung o.g. und anderer ausländischer Bürger bedarf im Interesse der einheitlichen Organisation im Lande Sachsen und der damit verbundenen Kostenerstattung sowie der Anrechnung auf die Verteilerquote einer konkreten Zustimmung der entsprechenden Verwaltungsbehörde.“

Mit dieser Verfügung bewahrheitet sich, was die Mitarbeiter des zentralen „Kontakt und Beratungsbüro für jüdische Bürger aus Osteuropa“ in der Berliner Otto-Grothewohl- Straße schon seit dem Vereinigungstag befürchten. Die aus Furcht vor antisemitischen Überfällen und Hunger nach Deutschland ausreisenden Juden werden hier gegen Asylbewerber und Aussiedler ausgespielt.

Lutz Basse, Mitarbeiter des Beratungsbüros, berichtete der taz, daß mit Hinweis auf die Anordnung des Innenministers die bereits zugesagten freien Plätze in sächsischen Wohnheimen Hals über Kopf gekündigt werden.

Löbliche Ausnahme Ost-Berlin

Lutz Basse begreift das „momentane Geziehe um jedes Bett“ als die faktische Aufkündigung der Ehrenschulderklärung der ehemaligen Volkskammer. „Deutschland hat sich gegenüber den jüdischen Menschen schuldig gemacht und hat deshalb eine besondere Verantwortung. Die jüdischen Emigranten aus Osteuropa dürfen nicht unter die Quotierung fallen, sondern müssen als eigene Gruppe aufgenommen werden.“ Basse — wie auch die Mitarbeiter des bis Ende des Jahres arbeitenden Ausländerbüros — hofft, daß die Bundesregierung recht bald ein spezielles Einwanderungsgesetz für Juden aus der Sowjetunion erläßt, und zwar ein „Gesetz, das diesen Namen wirklich verdient“.

Die einzig löbliche Ausnahme in diesem Reigen der kurzen Gedächtnisse und der Ausreden ist Ost-Berlin. Am vergangenen Dienstag wurde nach wochenlangen Beratungen endlich von den Ost-West Regionalpolitikern festgelegt, daß bis zum 31.Dezember 1990 die Juden aus der Sowjetunion weiterhin das Recht auf einen ständigen Wohnsitz haben. Dieses Recht auf Wohnen und das darin eingeschlossene Recht auf Eingliederungshilfen, Arbeit etc. haben sie allerdings nur in den Stadtgrenzen von Ost-Berlin. Wenige Meter weiter, in West-Berlin, werden die jüdischen Emigranten aus Osteuropa nach wie vor nur „geduldet“.

Das Ostberliner Sonderrecht einerseits, andererseits die Rechtlosigkeit in den ostdeutschen Bundesländern einschließlich der Weigerung der Kommunen, die vorhandenen Wohnheime den „unquotierten“ Emigranten zur Verfügung zu stellen, stürzt das „Kontakt und Beratungsbüro“ jetzt in erhebliche Schwierigkeiten. Das Büro kann seit dem 3.Oktober die Emigranten nicht mehr auf die gesamte alte DDR verteilen, sondern muß die jüdischen Hilfesuchenden in Ost-Berlin unterbringen. Dort wohnen aber jetzt schon die meisten jüdischen Neuankömmlinge. Von den offiziell etwa 2.500 sowjetischen Juden, die seit August in die neuen Bundesländer gekommen sind, leben mindestens 800 in Ost-Berlin. Und es werden täglich mehr.

Wie Lutz Basse weiß, werden in den nächsten Tagen rund 600 Familienangehörige von bereits hier lebenden jüdischen Emigranten aus der Sowjetunion in Ost-Berlin eintreffen. Dann wird die Wohnungslage erst recht prekär werden.

Diskutabler Vorschlag von Adass Jisroel

Die von der Stadt zur Verfügung gestellten Unterkünfte sind seit Wochen überbelegt, die in den letzten Tagen neu angekündigten Quartiere werden es bald sein, und kommunale eigene Wohnungen sind für jüdische Emigranten kaum zu bekommen. Auch die zwar formell noch getrennte, faktisch aber schon wiedervereinigte Jüdische Gemeinde ist bei der Wohnraumbeschaffung überfordert.

Eine Initiative, die, wie Lutz Basse meint, „nachahmenswert“ ist, hat die orthodoxe Gemeinde Adass Jisroel ins Gespräch gebracht. Sie hat bereits am 1.Oktober dem Magistrat vorgeschlagen, ein der Gemeinde gehörendes, leerstehendes Haus in der Innenstadt als jüdisches Wohnmodell für 100 Personen herzurichten. Adass will von den zuständigen Stellen allerdings eine Anschubfinanzierung zugesichert haben, und das wird nun seit Wochen geprüft.

Scheitern könnte dieses Vorhaben nicht nur am Geld, sondern an Vorbehalten und Intrigen gegenüber Adass Jisroel. Lutz Basse hofft sehr, daß der erbitterte Streit zwischen der großen Jüdischen Gemeinde zu Berlin und der winzigen Austrittsgemeinde nicht ausgerechnet zu Lasten der jüdischen Emigranten aus der Sowjetunion ausgetragen wird.