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Kommerziell verwertbar, geschmacklos und schön

EG-Richtlinien zu Lebensmitteln nehmen zu/ Normen für den Geschmack von bayerischen Kartoffelpuffern in Portugal  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

„65 Millimeter!“ Ein Seufzer des Entzückens quoll aus etwa hundert Mündern. „Ganze fünf Millimeter mehr!“ Es war kaum zu glauben. Flugs eilten die JournalistInnen aus dem Pressesaal der Brüsseler EG- Feinschmeckerzentrale, um die erstaunliche Nachricht in aller Welt zu verbreiten: „Nach langem, zähem Ringen haben sich die Hohen Kommissare in der 'Hauptstadt des guten Geschmacks‘ (Brüsseler Eigenwerbung) zu einer einheitlichen Mindestgröße durchringen können“. Worum es ging? Um Äpfel, genauer gesagt um „kommerziell verwertbare Äpfel“. Ihr EG-weiter Durchschnitt muß seit letztem Frühjahr mindestens 65 Millimeter betragen. Den Euro-Konsumenten scheint die News nicht auf den Magen zu schla- gen: Ob in Italien, Griechenland oder der erweiterten Bundesrepublik — „Golden Delicious“ und „Boskop“ werden überall verspeist. Schöne, große und geschmacklose Einheitsäpfel haben Konjunktur.

Den Wunsch nach frisch glänzenden Euro-Lebensmitteln versuchen die Eurokraten tatkräftig zu fördern. Denn soweit es den grenzenlosen Konsum von Lebensmitteln angeht, wird der Supermarkt EG '92 gerade erst installiert. Boskop und Golden Delicious spielen dabei eine Vorreiterrolle. Doch auch die gute alte Plastikwurst von Aldi ist schon in der halben EG zu haben. Selbst in Frankreich, der selbsternannten Nation der Gourmets, wird der Griff ins Aldi- Regal immer beliebter. Dennoch fragen sich die Binnenmarktköche besorgt: Gibt es die Euro-Esser überhaupt? Schließlich werden auch knapp zwei Jahre vor dem magischen Datum noch immer 80 Prozent der EG-Lebensmittel in den Ländern verzehrt, in denen sie produziert wurden. Doch die Branche rüstet sich: In den letzten zwei Jahren fanden über 400 Fusionen in der EG-Lebensmittel- und Getränkeindustrie statt, ein Drittel davon waren grenzüberschreitende Ehen.

Trotz Geschmacksnationalismus: Mit den Lebensverhältnissen ändern sich mit der Zeit auch die Eßgewohnheiten. Weniger als die Hälfte aller Europäer nimmt sich noch Zeit, drei Mal täglich eine richtige Mahlzeit einzunehmen. Stattdessen verschlingt die gestreßte Mehrheit zunehmend im Mikroofen erhitzte Schnellgerichte aus der Tiefkühltruhe oder der Plastikhülle. Europaweit ist gleichzeitig jedoch auch ein Drang nach gesünderen Lebensmitteln festzustellen. Denn wer mag schon gerne Glykol im Wein oder Würmer im Fisch. Auch den EG-Köchen dämmert es inzwischen, daß Cadmium, Blei, Antibiotika und Tranquilizer als Würze denkbar ungesund sind, daß Lebensmittel immer häufiger zu (schleichenden) Sterbemitteln werden. Mit einer ganzen Palette von Richtlinien will die EG-Kommission deshalb dafür sorgen, daß die EG-BürgerInnen wieder richtig an ihr Tischlein-deck-dich glauben können. Das Gift soll ebenso aus der Plastikverpackung verbannt werden wie der unreine Pilz aus dem Käse oder die giftige Bakterie aus dem Getreide.

Der Einfachheit halber sollen zur Konservierung radioaktive Strahlenschleusen benutzt werden, deren Einsatz allerdings in einigen Mitgliedsländern, etwa der Bundesrepublik, verboten ist. Aus gutem Grund, wie die bundesdeutsche Verbraucher-Initiative ausführt: „Frisch aussehendes, aber bestrahltes Gemüse oder Obst täuscht einen Gesundheitswert vor, den es nicht besitzt. Hinzukommt, daß die Frage, ob durch radioaktive Bestrahlung auch krebsauslösende Substanzen gebildet werden, noch völlig ungeklärt ist.“ Doch obwohl sich diese Waren besser als Ladenhüter denn zum Verzehr eignen würden, will Froschschenkelliebhaber und Binnenmarktkommissar Martin Bangemann im Rahmen der Harmonisierung des Binnenmarkts in Zukunft einheitlich bestrahlen lassen. Vereinheitlicht werden soll auch das Kleingedruckte auf Lebensmitteln. Schließlich ist es nicht besonders absatzfreundlich, wenn Labels, Gütesiegel und Ursprungsbezeichnungen oft nur mit Hilfe von Handbüchern zu verstehen sind. Zusatzstoffen wird im Binnenmarkt ein ungeheurer Boom vorausgesagt. Das „große Fressen“ der 340 Millionen EG-BürgerInnen, darin sind sich die Euro-Köche einig, kann aber nur stattfinden, wenn im Rahmen der Angleichung der Konkurrenzbedingungen die Normen für alle Lebensmittel harmonisiert werden. Deswegen muß dann auch bayerischer Kartoffelpuffer in Zukunft in Portugal genau so schmecken wie in Dänemark.

Weil aber bekanntlich die nationalen Geschmäcker unterschiedlich sind, will man sich in der EG-Kommission auf gentechnologisch aktivierte Biosensoren und Enzyme als Mini-Vorkoster verlassen. Damit sollen garantiert einheitliche Geschmacks- und Qualitätskriterien eingehalten werden können. Eine angenehme Erleichterung für den ernährungsbewußten Feinschmecker: Seinen eigenen Sinnen, dies die harte Lehre von Tschernobyl, kann man schon lange nicht mehr trauen. Als Krönung der sterilisierten Lebensmittel gilt deshalb „Novel Food“. Eine neue Kategorie gentechnisch aufgemotzter Lebensmittel weist den Weg zum europaweiten Feinschmeckerparadies: Wildgemachte Gene produzieren heute schon mehr als die Löcher im Schweizer Käse. Die wassersparende Tomate wird als Hit für die Ketchup-Industrie gefeiert. Und selbst irisches Guiness wird bald gengesteuert die Kehlen erfrischen. Doch die EG-Kommissare basteln bereits an der Ernüchterungszelle für die gentrunkene Industrie. Ende des Jahres wollen sie eine Richtlinie vorlegen, mit der sie den Gen-Köchen Mäßigung empfehlen.

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