„Polenwirtschaft“

Wie man in der Fremde Deutschland kennenlernt  ■ Von Gabriele Goettle

Ende Oktober brachen wir auf, um jenes Land zu besuchen, dessen Bürger von deutschen Menschen nach wie vor „Polackenschweine“ genannt werden. Die entscheidenden Reiseeindrücke gewinnt man manchmal bereits vor der Abfahrt, in diesem Fall in der Visastelle der polnischen Botschaft.

Weitab vom prachtvoll hochherrschaftlichen Hauptportal der Botschaftsvilla liegt im Souterrain eines Seitengebäudes die Abfertigungsstelle für Einreisewillige. Der Raum ist voller Menschen, alle sprechen polnisch, alle scheinen mit den Gepflogenheiten vertraut zu sein. Wir rätseln, weshalb Polen wohl ein Visum benötigen, oder sind das polnisch sprechende Deutsche oder gebürtige Deutsche polnischer Herkunft, vielleicht auch „deutschstämmige“ Polen mit nun deutscher Staatsbürgerschaft oder polnisch sprechende Angehörige anderer Nationen?

Dann jedoch beobachten wir eine Szene, die wir für echt deutsch halten: Mitten im Gedränge steht ein graumelierter Herr mit weißem Schal und langem offenem Mantel. Er hält seinen deutschen Paß umklammert und leidet sichtbar darunter, daß die Leute keine Distanz halten, sondern ihre Körper unbefangen gegen den Vordermann pressen. Als er endlich an der Reihe ist, drängt sich blitzschnell eine Dame vor ihn und reicht ihre Papiere durch den Schalter. „Schicksalsvisum“, sagt der Beamte achselzuckend zum verblüfften Herrn und fügt hinzu: „Ein Todesfall in der Familie.“ Der Herr erholt sich und wird hochrot im Gesicht. „Von wegen, mit mir nicht! Die stecken doch alle unter einer Decke, Polenwirtschaft verdammte!“ bricht es aus ihm heraus.

Die Rache folgt auf dem Fuß. Der Herr, laut Reisepaß in „Breslau“ geboren, kann kein Visum beantragen. Zuvor, so wird ihm sachlich mitgeteilt, muß er sich von der Polizei den Zusatz „Wroclaw“ eintragen lassen.

Frankfurt/Oder

Selbst im größten Buchladen der Grenzstadt gibt es kein Material mehr über das ehemalige Bruder- und Nachbarland und auch über die anderen sozialistisch gewesenen Länder nicht. Statt dessen quellen die Regale und Ständer nun über vor Reiseführern, Wörterbüchern, Bildbänden und Straßenkarten der übrigen morgen- und abendländischen Reisewelt.

Am Grenzübergang ist starker Gegenverkehr. Trabis und Skodas überqueren schwer beladen die Oderbrücke. Ehemalige DDR-Bürger sind von der Visapflicht ausgenommen und nutzen die gebotene Gelegenheit zum Billigeinkauf in Slubice, dem anderen Teil der Stadt. Noch Anfang des Jahres bis zur Währungsumstellung wurde einkaufenden Polen in der DDR die Ware aus den Körben genommen, weil man „Schwarzmarktgeschäften vorbeugen“ und sich nicht „leerkaufen“ lassen wollte. Heute raffen die D-Mark- bewaffneten Ex-DDRler von der Butter bis zum Benzin alles zusammen, was zu Hause das Vielfache kostet. Ganz Polen ist ihnen ein einziger „Polenmarkt“.

Die Polen ihrerseits haben nahe am Grenzübergang einen riesigen Bazar hingestellt, auf dem sie auf winzigen Tischen und aus Autos heraus all das bereithalten, was der Deutsche erfahrungsgemäß verlangt, besonders Kleidung, Ledersachen, Werkzeug usw. Der Handel mit italienischen Pullovern und schicken, schwarzen Anoraks ist ganz in den Händen von Roma. Sie rufen: „Bitte kaufen, scheene Tante“ oder „Bitte Bruder, Jacki!“, rauchen und haben keine festen Stände.

Die Märkte in Grenznähe, die wir gesehen haben sind in ihrem Angebot bereits weitgehend standardisiert. Überall die gleichen locker gestrickten Pullover, die Korbwaren, Jeans, optischen Geräte aus Rußland usw. In Zgorzelec (Görlitz) nutzten auch einige Bauern den Markt und boten Gemüse, Obst und Schaffelle zum Kauf.

Im Osten, entlang der polnisch- russischen Grenze, gibt es „Russenmärkte“, d.h. es sind eigentlich die Bauernmärkte der Einheimischen, auf denen auch Russen ihre Waren anbieten. Neben schweren Taschenuhren mit rotem Stern, Ferngläsern, Fellmützen, Fotoapparaten und großen Tauchsiedern gibt es auch merkwürdige spindelförmige Gegenstände mit Muster, die aussehen wie gelbe Kerzen, sich dann aber als stark geräucherter Käse entpuppen. In kleinen grünen Blechdosen verkauft man eine wohlriechende Vaselinesalbe.

Pommerland

„Maikäfer flieg! Dein Vater ist im Krieg, deine Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer flieg!“

Das Kinderlied vom abgebrannten Land und dem irgendwie bemitleidenswerten Maikäfer hat sich in meine Seele hineingeätzt. Dagegen haben ein paar geographische und historische Fakten, die man pro forma im Kopf hat, überhaupt keine Chance.

Aber alle Erwartungen, in ein fernes und verwahrlostes Land zu kommen, erwiesen sich als falsch. Unerklärlicherweise hat im viel ärmeren Land die „sozialistische Mißwirtschaft“ keineswegs die gleichen Spuren hinterlassen wie in der ehemaligen DDR. Hier gibt es keine einstürzenden Dächer und feuchten Wohnhäuser wie in Mecklenburg/Vorpommern und dem übrigen Ostdeutschland. Zum ersten Mal sehen wir das typisch polnische Blechdach. Es bedeckt große Wohngebäude, Einfamilienhäuser und sogar russische Holzhäuser, ist grün, rot, blau oder rostbraun angestrichen und oft noch verziert mit aufgebogenen Blechen. Selbst der Laie erkennt, daß die Spengler ihre Sache gut verstehen. Ähnliche Dächer gibt es übrigens in Frankreich.

Der Kiosk

Vom Morgen bis zum Dunkelwerden offen, auch an Feiertagen, bietet er als „kleinstes Warenhaus der Welt“ von Zeitungen über Rasierseife bis zur Taschenlampe alles, was man oft gerade in dem Moment braucht, wenn die Geschäfte schon zu sind. Und das nicht nur in der Stadt, sondern überall an Straßenbahn- und Bushaltestellen, in öden Trabantenstädten und an Dorfstraßen.

Das Landleben

Außer in Oberschlesien und in einigen Gegenden im Norden sieht man fast überall kleine Felder, die mit Pferd und Pflug bearbeitet werden. In Polen gab es keine Kollektivierung der Landwirtschaft. Der Widerstand der Bauern ließ sich offensichtlich nicht brechen, und so gestand man den „Individualbauern“ östlich der Weichsel 100 Hektar. Man folgte da wohl der Tradition, daß die Bauern östlich der Weichsel schon immer die Ärmeren waren.

80 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte werden von den „Individualbauern“ erzeugt, den Rest erbringen die großen Staatsgüter und Genossenschaften. Auf gigantischen Feldern treiben die Güter eine total flurbereinigte und industrielle Landwirtschaft, versinken dabei aber mit ihren ehemaligen Herrenhäusern, Gutshöfen und Vorwerken schier in der Gülle. Alles ist aufs widerlichste heruntergekommen, die Stallungen fallen zusammen, die Felder stinken zum Himmel, und das Vieh ist inkrustiert im eigenen Kot. Dabei produzieren sie derart teuer, daß ihr Fleischpreis ohne Subvention gar nicht bezahlbar wäre.

Die Kleinbauern hingegen produzieren viel billiger, es fehlt ihnen aber an Dünger, Saatgut und allem, was benötigt wird. Im Osten und Südosten gibt es Dörfer wie aus der Zarenzeit. Mit Schnitzereien verzierte russische Holzhäuser in vielen Varianten stehen in kleinen, umzäunten Gärten. Zwischen den Obstbäumen gehen die Hühner, Schweine und Gänse hin und her, auf den Teppichstangen sitzen wie Geier gesellig schwarze Truthähne beisammen, das Wasser wird aus überdachten Ziehbrunnen hochgeholt. In vielen dieser Dörfer ist weder eine Fernsehantenne zu sehen noch ein Auto. Alle Wege sind ungepflastert, in die nächste Kleinstadt fährt man zum Markt mit dem Panjewagen. Die Bauern leben vergleichsweise spartanisch. Sie arbeiten hart, denn schließlich haben sie das ganze Land zu ernähren. Gäbe es diese kleinen Flecken nicht, diese vielen Dörfer, in denen man auf die alte Art schuftet, Mensch wie Tier, dann wäre wohl längst eine Hungersnot ausgebrochen.

Was allerdings mit diesen Idyllen geschehen soll in einer Zukunft, die sich an Rentabilität halten wird, ist ungewiß. Jetzt jedenfalls brennen überall noch die Herbstfeuer, über den Zäunen hängen die Rübenblätter zum Trocknen. Der polnische Gesamthund (klein, zwischen Spitz und Pekinese stehend und landauf, landab verbreitet) verfolgt zähnefletschend unser Auto und ist nahe daran, in die Reifen zu beißen.

Warschau

Am Nachmittag zur Hauptverkehrszeit sah ich einen schwarzen jungen Hund über die Ul Marchlewskiego laufen. Es gelang ihm, unbeschadet die vier Fahrspuren bis zur Mitte zu überqueren, dort hätte ihn jedoch beinahe die Straßenbahn erwischt. Erschreckt durch das Bimmeln, sprang er auf die Straße, um die nächsten vier Spuren zu überqueren, und wurde hier nur deshalb nicht überfahren, weil der Verkehr durch die Aussteigenden aus der Straßenbahn behindert wurde.

Durch dieses moderne Warschau, durch den Anblick dieser brutalen achtspurigen Straßen, die wiederum gekreuzt werden von ebensolchen Straßen usw., schimmert noch ein wenig von jener wahnsinnigen Vernichtungswut hindurch, mit der die Deutschen Land und Leute überzogen, das alte Warschau schleiften.

Mitten zwischen Hochhäusern und Geschäftszeilen liegt eine Markthalle, um die sich ein Markt im Freien drängt, der sich immer weiter fortsetzt, in beiden Richtungen die Straße hinunter, wo dann nur noch Kleidung verkauft wird.

In der Markthalle sind vorwiegend staatliche Geschäfte, die Fleisch, Brot, Gewürze, Eier, Fisch usw. anbieten. Hinter dieser Markthalle liegt eine zweite, in der sich ein Sportklub niedergelassen hat. Zwischen den Hallen streifen magere Katzen herum, wühlen alte Männer in überquellenden Containern, riecht es nach Urin und gebratenem Fisch.

Vorn zur Straße hin stehen dicht an dicht kleine Lastwagen, Kombis und offene Lieferwagen in Zweierreihen. Hier ist der freie Markt. Zucker wird von den Wagen herunter verkauft, Klopapier, Eier, Butter und Fleisch.

Die Fleischverkäufer bilden zwei extra Reihen. Unter den Lastwagen haben sich Blutlachen gebildet, fließen, verdünnt durch einen Eimer Wasser, um am Boden liegende entfleischte Rinderschädel herum allmählich in die nächste Vertiefung. Auf dem rohen Holz wackliger Verkaufstische liegen große Fleischbrocken vom Rind. Nur ein paar Verkäufer bieten Schweinefleisch an, keiner hat beides. Die Kunden gehen umher, vergleichen Ware und Preis, während der Verkäufer den blutbeschmierten Ärmel seines weißen Kittels hochschiebt, mit der Spitze des scharf geschliffenen Messers auf die schönsten Stücke deutet und jeden Interessenten angurrt.

Hinter dem Verkaufstisch hockt der Vater oder Großvater im Lastwagen und ist im Halbdunkel unter der Plane kaum zu sehen. Hier wird gearbeitet. Dazu verschwindet er für eine Weile fast vollkommen unter einer Rinderhälfte, um sich mit Axt und Messer langsam durch den Brustkorb und das Muskelfleisch hindurchzuarbeiten. Das grob Zerteilte liegt auf der fettstarrenden Ladefläche, bis es gebraucht wird und der Sohn oder Enkel es in kleinere Stücke zerschneidet. Die letzten, schon ein wenig trägen Fleischfliegen kleben auf den Planen und Tischen und lassen sich lieber erschlagen als verscheuchen von diesem erlesenen Schmaus kurz vor dem Kältetod.

Die Kundschaft beiderlei Geschlechts ist gutbürgerlich gekleidet. Viele tragen unter dem Arm ein frisches Baguette, das es nebenan zu einem gesalzenen Preis gibt. Eine Dame mit langen, lackierten Fingernägeln rührt umstandslos in einer Schüssel voller Fleischteile, um, nachdem sie ihre Wahl getroffen hat, das tropfende Stück auf die Waage zu legen. Es wird ihr flüchtig in ein Packpapier eingeschlagen, sie versenkt es in ihrer großen Ledertasche. Spätestens nach fünf Minuten wird das Papier durchgeblutet sein. Aber an solche Dinge ist man wahrscheinlich gewöhnt.

Erst noch gewöhnen müssen sich viele, besonders alte Leute an die Armut, die sie zwingt, die öffentlichen Suppenküchen aufzusuchen und sich zum Betteln an stark frequentierte Orte zu setzen. Manche haben noch eine Winzigkeit anzubieten, ein paar Astern, zwei Bund Möhren und ein halbes Dutzend Äpfel, aber das schmälert eher die Einnahmen, denn wer kauft das schon? Viel eher wird denen, die gar nichts haben, im Vorbeigehen ein zerfetzter Hunderter in den fleckigen Rock geworfen. Für die Portion schieres Schweinefett mit haariger Schwarte, die ein Stück weiter auf dem Tisch liegt, reicht das noch lange nicht, das Pfund kostet umgerechnet fast zwei Mark, und ein Hunderter ist weniger als zwei Pfennige.

Ein seltsam schabendes Geräusch,

das wir überall gehört haben, wo wir an einer katholischen Kirche vorbeikamen, können wir uns erst auf dem Friedhof in Lodz erklären. Mit Drahtbürsten, Reibern, Schmirgelpapier, Seifenlauge und Bohnerwachs werden die Grabplatten und Kreuze für Allerheiligen aufpoliert. Selbst die schmiedeeisernen Kreuze lackiert man neu, die verblichene Goldschrift im Holz wird mit Bronze nachgemacht. Froh lächeln die Verblichenen von den ovalen Marmorplättchen mit ihrer Fotografie herab, und die Hinterbliebenen setzen sich, wenn alles zur Zufriedenheit erstrahlt, nieder und beten ein wenig. Zu diesem Zweck steht zu Füßen jedes Grabes seltsames Gestühl, mal in der Arbeit von Barhockern, mal an Caféhausstühle aus Metall erinnernd. Die Angehörigen sitzen frontal vor der Grabstelle wie beim Fernsehen.

Auf diesem großen alten Friedhof gibt es ein Klogebäude mit Fallgruben, in die man gerade frischen Kalk gestreut hat. Der Geruch verschlägt dem Unkundigen den Atem, die vollgeschissenen Bretter in allen Kabinen machen das Bedürfnis zur Qual. Ich sah aber zwei ältere, überaus elegant gekleidete Damen plaudernd hineingehen und nach einer Weile plaudernd wieder herauskommen in korrektem Zustand.

Es gibt rätselhafte Widersprüche in diesem Land. So ist es zum Beispiel unmöglich, als Frau an der Tankstelle selbst Benzin einzufüllen. Kaum hat man den Zapfhahn in der Hand, kommt mit charmantem Lächeln irgendein in der Nähe stehender Mann herbei und übernimmt dieses offensichtlich symbolhafte Hineinhalten in den Benzintank. In fast allen Fällen waren es Kunden und keineswegs, wie ich anfangs dachte, Tankwarte.

Ganz anders verhalten sich diese ausgeprägten Machos, in der Kirche auf Knien vor der Madonna liegend, wenn man sie und ihre Muskelkraft einmal wirklich braucht. Beispielsweise kam uns auf einer Landstraße, über die Kuppe herabsausend, plötzlich ein Polski-Fiat entgegen, gefolgt von einem Lastwagen. Der Fiat rutschte auf dem Dach über die Straße, mit gräßlichem Schaben, Klirren und Funkensprühen, schien zuerst auf uns zuzukommen, drehte sich aber dann, überschlug sich und rollte auf ein Feld hinunter, wo er mit den Rädern nach oben liegenblieb. Ich stieg schnell aus, um zu helfen, der Lastwagen hatte angehalten, aus einem anderen Auto kam ein Mann gelaufen, und gemeinsam haben wir das Auto umgedreht. Als aber die Tür geöffnet war und es darum ging, einen dicken, blutüberströmten Mann herauszuheben, kam keiner von den Lastwagenfahrern, die oben an der Straße standen, um zu helfen. Die Pflege der Verwundeten ist Frauensache.

Gotteshäuser

An Kirchen und Kirchgängern ist kein Mangel, im Gegenteil: Hier herrscht wahrer Überfluß. Die erstaunlich zahlreichen Neubauten haben ein Fassungsvermögen, als gälte es, ganze Stadtteile unterzubringen. Sie befleißigen sich außerdem einer äußerst gewagten Architektur. Wohl aus Barmherzigkeit — denn nur auf schräg gestaffelten, tief herabgezogenen Dachflächen finden all die Ziegel Platz, die sonst im Lande fehlen. Von Ferne betrachtet, erinnern diese Konstruktionen an Abschußrampen und in der Dämmerung an Ruinen.

Wegen der großen Nachfrage findet die heilige Sonntagsmesse non- stop statt. Nicht nur in Czestochowa (Tschenstochau) zu Ehren der schwarzen Madonna, auch in der Krakower Marienkirche lösen Teams von Priestern und Meßdienern einander im fliegenden Wechsel ab. Nach einem Augenblick der Stille beginnt dann im frisch aufgefüllten Kirchenschiff der Gottesdienst von neuem. Inmitten von Gläubigen aller Altersstufen, die Gebete murmelnd auf Knien rutschen, verrenken sich Touristen, um einen näheren Blick auf den berühmten Altar von Veit Stoß zu werfen.

Draußen auf dem Platz vor den Tuchlauben hat unterdessen Mazowiecki zu den Bürgern gesprochen. Katholik wie sein Wahlkampfgegner Walesa, versprechen beide, der Intellektuelle wie der Prolet, den Schutz des ungeborenen Lebens, damit endlich die gottlos kommunistische Abtreibungspraxis ein Ende habe. Die spärliche Zuhörerschaft applaudiert, ein Musikzug aus Nova Huta marschiert blasend vom Platz. In den umliegenden acht Kirchen herrscht nach wie vor ein heftiges Kommen und Gehen.

Ganz anders hingegen sieht es in Kazimierz aus: „Bevor wir die Synagoge betreten, muß ich ihren Begleiter bitten, diese Kappe aufzusetzen, Männer müssen bei uns den Kopf bedecken“, sagt der hinkende alte Mann und reicht meiner Freundin die Kopfbedeckung, während sie den Irrtum schon aufklärt. „Oh, entschuldigen Sie.“ Er lächelt und sagt halb zu sich selbst, halb zu den alten Frauen hin, die bei einem Samowar und Tee am wachstuchbedeckten Tisch sitzen und schmunzeln: „Sie trägt das Haar wie ein Mann.“

Die letzten vierzig Gemeindemitglieder, lauter alte Leute, kämen hier ab und an zusammen, erzählt der Mann, der für alles zuständig ist in der Synagoge und Gemeinde. Er ersetzt soweit wie möglich den fehlenden Rabbiner und Kantor, die Führungen auf dem alten Friedhof nebenan macht er ebenso wie die Korrespondenzen und Gemeindemitteilungen. Das viele Herumgehen ist ihm oft beschwerlich und schmerzhaft. Er war als Soldat in der Roten Armee und hat sein Bein in Finnland verloren. „Wahrscheinlich hat mir das mein Leben gerettet. Darum bin ich auch in Polen geblieben, als alle ausgewandert sind. Jemand muß ja schließlich bei unseren Toten bleiben“, erklärt er, klopft auf sein Holzbein und führt uns zum Grab des wundertätigen Rabbi Remuh, wo man Zettel einwerfen kann mit Wünschen. „Schreiben Sie ruhig etwas auf, er hilft auch den Nichtjuden. Wünschen Sie vielleicht einen Mann und viele Kinder?“ ermuntert er uns. „Besser nicht“, sagen wir, beschämt von so viel Großzügigkeit. Drüben in der großen Synagoge, der ältesten Polens, ist ein Museum der Geschichte des Judentums untergebracht. Auf alten Fotografien kann man sehen, wie die Stadt Kazimierz einmal aussah, wie ihre Bewohner arbeiteten und lebten, bis die Deutschen mit ungeheuer sachlicher Gründlichkeit alle Lebenszusammenhänge kappten. Jenseits der Weichsel wurde ein Ghetto errichtet, und alle Krakauer Juden wurden hier interniert. Das Ghetto wurde 1943 liquidiert, Überlebende ins Konzentrationslager Plaszow (in Krakau) geschleppt, um dort in der Rüstungsindustrie Zwangsarbeit zu leisten. Ab Juli 1944 begann die Deportation der Häftlinge nach Auschwitz. Kazimierz ist heute ein verfallender Stadtteil. Die alten Gebäude haben meterdicke Mauern, Innenhöfe, Pawlatschen, finstere, lange Gänge und Treppenhäuser, die in Gewölben plötzlich irgendwo enden.

Viele der Häuser sind unbewohnbar und leer. Durchstreift man sie, muß man unweigerlich an den Golem denken. Insgeheim kommt leise Panik in mir auf, als ich durch einen feuchten, endlosen Gang tappe und mit der Feuerzeugflamme die Treppe zum Ausgang suche. An einer verfaulenden Holztür hängt ein Namensschild aus Pappe. Zbigniew Smetca. Es ist ganz neu. Draußen an der Hauswand steht mit Kreide geschrieben: „Fuck off Zion“.

Wie hatte es der alte Mann in der Remuh-Synagoge formuliert? „Ja, es gibt heute wieder einen Antisemitismus in Polen, es gab immer Antisemitismus in Polen, es gab auch Pogrome, aber es hat auch lange Zeiten gegeben, in denen das Judentum aufblühen konnte, in denen die verfolgten Juden aus ganz Europa hier Zuflucht gefunden haben. Es gab Toleranz in Polen, das können Sie schon daran sehen, daß es hier nie eine Inquisition gab. Vernichtet haben die Nazis unsere Menschen. Ohne Religion! Und was heute in Polen an antisemitischen Sachen gesagt wird, das kommt allein von ganz oben her, auch dann, wenn es anders behauptet wird. Die Arbeiter sind nicht die Antisemiten, sondern die Intelligenz.“

Teil 2 der Reisebeschreibung erscheint Samstag, den 1. Dezember.