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Bei der „Krankheit des Jahrhunderts“ ist alles anders

■ Patienten und Selbsthilfegruppen verlangen immer lautstärker Mitspracherecht bei Forschung und Therapie

Der Wissenschaftsbetrieb kann bei Aids nicht mehr länger ungestört vor sich hinforschen. Aids-Hilfen und Act-up-Gruppen machen zunehmend Druck, verlangen Mitsprache bis hinein ins Forschungsdesign. Der Hamburger Kongreßvorsitzende Manfred Dietrich bezeichnete Aids als die „Krankheit des Jahrhunderts“, die grundsätzliche Einblicke in die Welt der Mikroben erlaube und neue Erkenntnisse für alle Bereiche der Medizin.

Ganz sicher wird Aids aber auch einen veränderten Umgang mit Patienten bringen, die sich wie bei keiner anderen Krankheit immer heftiger einmischen. Am deutlichsten zeigt sich dieser Trend zur „Demokratisierung“ gegenwärtig in der Therapieforschung. Klassische Doppel- Blind-Studien — bei denen einer Hälfte der Patienten ein Medikament, der anderen ein Placebo verabreicht wird — werden scharf kritisiert. Vor allem in Studien mit den beiden bislang wirksamsten Virushemmstoffen AZT und DDI war es bislang üblich, einer Kontrollgruppe Placebo zu geben, um die Wirksamkeit der Medikamente zu messen. Nicht zuletzt aufgrund der Interventionen der Betroffenen sind diese Studien inzwischen die Ausnahme.

Als der Schweizer Aids-Forscher Jürgen Jost in Hamburg eine Studie mit Pentamidin (zur Verhinderung von Lungenentzündungen) bei HIV- Infizierten vorstellte und stolz auf das objektive Placeboverfahren hinwies, mußte er sich rüffeln lassen, daß dies in den USA längst als unethisch gestrichen worden wäre. 24 Patienten waren in der Placebogruppe an einer Lungenentzündung erkrankt, sieben in der Pentamidin-Gruppe. „Aber“, beruhigte Jost die Zuhörer, „es ist keiner gestorben.“

Jost war es auch, der eine eigentümliche Kosten-Nutzen-Rechnung präsentierte. Wegen der hohen Kosten für die Pentamidin-Therapie hatte er schon mal durchgerechnet, ob es nicht preiswerter wäre, die Patienten nicht mehr prophylaktisch zu behandeln, sondern nur zu beobachten und erst beim Ausbruch der Lungenentzündung zu intervenieren. In dankenswerter Weise hat die Frankfurter Professorin Helm dem Manne bescheid gestoßen.

Beim Aids-Kongreß in Hamburg waren Aids- Hilfen und Act-up-Gruppen endlich offensiv und unübersehbar vertreten. Sie schleppten Geldsäcke vor die Türen des AZT-Seminars, um gegen die Preispolitik des glänzend verdienenden Herstellers Wellcome zu protestieren (eine Jahrestherapie mit AZT kostet bei niedriger Dosis 7.500 Mark), sie legten sich „sterbend“ vor Rolltreppen und verlangten Zugang zu dem in der BRD bisher nicht zugelassenem Medikament DDI.

Am Montag war eine Schlüsselszene des Kongresses zu beobachten: Nach der Rede von Gesundheitsministerin Lehr stürmten die Act-up- Gruppen das Podium und protestierten dort vehement gegen die „Aids-Politik der lehren Taschen“. Nach der Verlesung eines Forderungskatalogs — der Veranstalter hatte den Gruppen dazu bereitwillig das Mikrophon überlassen — ging die Frage in die Runde: Wer nicht mit der Aids-Politik der Bundesregierung einverstanden ist, soll aufstehen. Drei Viertel der Teilnehmer, die sonst eher aus sicherer Entfernung die Aktionen der Betroffenen beobachtet hatten, gingen in die Senkrechte.

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