: Die Wunderkinder werden erwachsen
Die Schach-Schwestern Zsuzsa, Zsofia und Judit Polgar wollen die männliche Schachwelt erobern Bei der Olympiade streiten sich die Ungarinnen mit den sowjetischen Meisterinnen um den Titel ■ Aus Novi Sad Eugen Kurz
Ein Pädagogikstudium muß nicht fruchtlos bleiben — Laszlo Polgar jedenfalls, so will's die Anekdote, erklärte seiner Ex-Kommilitonin und frischangetrauten Ehefrau Klara, sie würden nun ein kleines Experiment vornehmen: Sie würden sechs eigene und sechs adoptierte Kinder großziehen und sie alle auf einem Gebiet zu Genies machen. Womit dann bewiesen wäre, daß „Genialität“ nicht angeboren sei kraft göttlichen Funkens oder irgendwelcher irrer Genkombinationen. Genies entstehen — laut Polgar — durch Erziehung, durch die frühe Wahl eines Interessengebietes und die optimale Förderung darin, was Laszlo P. allgemein die „richtige Erziehung“ nennt.
Den Worten folgten Taten: Als erste kam Zsuzsa. Sie wurde seit ihrem dritten Lebensjahr mit den Grundlagen der Mathematik, der Musik und des Schachs vertraut gemacht. Die Würfel fielen zugunsten des Schachspiels, als die vierjährige eine Budapester Jugendmeisterschaft gewann, und dabei lauter zum Teil doppelt so alte Buben besiegte. Nicht nur, daß ihr's Spaß machte. Dem Leiter des Experiments muß in diesem Moment eingeleuchtet haben, daß Leistungen im Schach quantifizierbar sind.
Zsofia kam an, als Zsuzsa fünf war, Judit zwei Jahre später. Die jüngeren fanden gebahnte Wege vor. Fürs Schachtraining waren die besten verfügbaren Hilfsmittel gerade gut genug. Bücher zunächst und als Betthupferl pflegten die winzigen Dinger ein paar Budapester Meisterkandidaten im Blitzspiel zu vernaschen. Heute haben sie Zugriff auf die riesigen Informationsmengen per Computer. Renommierte Großmeister reisen an, um mit dem Trio als bezahlte Trainer zu arbeiten. Fünf bis sechs Stunden täglich sind nach wie vor das Pensum.
So greulich das alles klingt: Der Erfolg ist überzeugend. Mit 14 bzw. 21 Jahren führen Judit und Zsuzsa die Weltrangliste der Frauen an. Und Zsofia liegt immerhin noch auf Platz acht. Judit ist 50mal ins Guiness- Buch der Rekorde eingegangen.
Mit zwölf Jahren galt sie als spielstärker, als es je ein männlicher Kollege — Fischer und Kasparow eingeschlossen — in diesem Alter war. Als jüngste des Trios wuchs sie in eine produktive Schachatmosphäre hinein, die ihre Entwicklung begünstigt haben wird. Vielleicht ist sie aber doch einfach nur das größte Talent. Da aus den Adoptionen nichts wurde, konnte Vater Polgar den geplanten Nachweis nicht zu Ende führen, daß „geniale“ Leistungen potentiell in jedem Kind stecken. Es kommt weniger darauf an, ob man das biedermeierlich-antiquierte Wort „Genie“ benutzt oder unpathetisch von außergewöhnlichen Leistungen redet. Die Frage ist, wie weit Fleiß und Förderung das Talent entfalten.
Insofern also wird Vater Polgar Recht haben. Praktisch kommt alles auf die Erziehung an. Wer nun aber in seinen Töchtern stumpfe Schachnärrinnen vermutet, sieht sich eines Besseren belehrt, sobald er die Mädchen einmal aus der Nähe erlebt. Quicklebendig und immer gut gelaunt sind sie, ohne Rivalität freuen sie sich miteinander an ihren Erfolgen. Schachidioten sind sie auch nicht. Die Schulexamina sind längst abgelegt. Alle sprechen mehrere Sprachen, hören klassische Musik, treiben ausgiebig Sport: Tischtennis und Tennis, Schwimmen, Radfahren und Karate. Spannungen mit den Eltern sind nie sichtbar geworden. Nur von einem Freund hat man noch nichts gehört.
Denn wen die Presse gewohnheitsmäßig (und weil's so aufsehenerregend klingt) noch immer „Wunderkinder“ nennt, sind allesamt junge Frauen geworden: Zsuzsa (21) mit brauner Kräuselmähne, Judit (14), schon so groß wie ihre Schwestern, mit rückenlangem rötlichen Haar und Zsofia (16) mit schwarzer Pagenfrisur. Gut ein Jahr läuft der Werbevertrag mit einer MÜnchener Computerfima, solange also dürfte die Familie mindesten noch zusammenleben...
Das Wetter von übermorgen aber braucht uns nicht zu interessieren: es kommt von selbst. Einstweilen hat's das Familienunternehmen zu was gebracht, und obendrein tut ein jeder der Fünf, was ihm am meisten Spaß macht. Vater Laszlo ist Manager seiner Kinder und Geschäftsmann. Mutter Klara hat eine Disseration verfaßt über Kindererziehung in der Familie „nach der Methode Polgar“. Die drei Schwestern aber spielen Schach und hoffen den sowjetischen Spielerinnen am kommenden Montag das olympische Gold zu stiebitzen, zum zweiten Mal nach Thessaloniki 1988. — Wie gesagt: Ein Pädagogikstudium muß ja nicht fruchtlos bleiben.
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