Kinderprostituion in Indien wächst auch im „Jahr des Mädchens“ weiter

Das Jahr 1990 wurde von den Regierungschefs der sieben südasiatischen Staaten zum „Jahr des Mädchens“ erklärt. Außer schönen Reden oder der Herausgabe von Sonderbriefmarken hat sich in Indien nicht viel an der oft schlimmen Lage indischer Mädchen geändert. Die Zahl derjenigen, die beispielsweise als Prostituierte arbeiten müssen, steigt weiter.  ■ Von Walter Keller

Radha sieht älter aus, als sie ist. Die 13jährige liegt seit einiger Zeit auf der Frauenstation eines Krankenhauses in Bombay, Indiens bedeutendster Metropole. Radha hat Aids. Infiziert hat sie sich während ihrer zweijährigen Arbeit als Prostituierte in Bombays größtem Rotlichtbezirk, Kamathipura, wo insgesamt 50.000 Prostituierte arbeiten. „Radha weiß nichts von ihrer Krankheit. Sie erinnert sich auch nicht an ihre schlimme Vergangenheit“, weiß Vinod Gupta, der 1983 in Bombay die Organisation „Savdhan“ gegründet hat, um vor allem jugendliche Prostituierte aus ihrer verhängnisvollen Lage zu befreien. Einer Untersuchung der indischen Gesundheitsorganisation (IHO) zufolge sind mehr als ein Viertel der Prostituierten Bombays Kinder. Bombay ist kein Einzelfall. Obwohl im „Jahr des Mädchens“ die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das harte Schicksal von Millionen von Mädchen gelenkt werden sollte, die wegen kultureller, religiöser oder wirtschaftlicher Gründe diskriminiert und ausgebeutet werden, nimmt die Zahl der Kinderprostituierten weiter zu.

Mädchenhändler

Viele Mädchen werden ganz einfach entführt, anderen wird eine Arbeit versprochen, wie es bei der 14 jährigen Nepalesin Maya der Fall war. Sie ist nur eine von über 80.000 Mädchen und Frauen aus dem Himalayastaat, die Berichten der in Kathmandu erscheinenden Wochenzeitung 'Matribhumi‘ in 200 indischen Bordellen arbeiten sollen. Sie würden unter dem Vorwand der Arbeitsvermittlung an Bordelle verkauft. Wie die in Bombay erscheinende 'Times of India‘ berichtet, kommen seit einiger Zeit immer mehr Prostituierte aus den verarmten Gebieten Nepals, wo es attraktive und vor allem hellhäutige Mädchen und Frauen gebe.

Eine andere, weitverbreitete Methode ist die vorgetäuschte Heirat. Die 17 jährige Aarti aus dem südwestlichen Bundesstaat Kerala sollte mit einem jungen Mann verheiratet werden der vorgab, in einem Golfstaat zu arbeiten und dort viel Geld zu verdienen. Unter dem Vorwand, Aarti einen Reisepaß für die Ausreise besorgen zu wollen, brachte er sie nach Bombay. Bald darauf fand sie sich in einem Bordell wieder — der 'Ehemann‘ war verschwunden.

Aber auch viele Eltern sehen in der Prostituierung ihrer Tochter oftmals einen letzten Ausweg aus Verarmung und Verschuldung, wie Mitarbeiter der in Delhi ansässigen Organisation 'Kalyani‘ berichten.

Touristen

Offiziell werden arabische Touristen für die Zunahme der Kinderprostitution verantwortlich gemacht. Doch auch indische Männer bezahlen genauso gerne für Sex mit Minderjährigen. Die Gründe dafür sind zahlreich: Psychater führen dies auf ein schwaches Selbstbewußtsein zurück. Auch gebe der Sex mit Kindern vielen alternden Männern offensichtlich das Gefühl wiedergewonnener Jugend. Ein anderer Grund ist der in Indien weitverbreitete Glaube, Sex mit einer Jungfrau heile Impotenz und Geschlechtskrankheiten, wie Dr. Gilada von der indischen Gesundheitssorganisation meint.

Eine andere Form von Kinderprostitution findet im Rahmen der Ausübung religiöser Riten statt. Im Distrikt von Belgaum, im Bundesstaat Karn ataka, existiert nach wie vor unbehelligt das sogenannte Devadasi- System. Tausende minderjähriger Mädchen werden Jahr für Jahr während des „Marg Punima“-Festes in den Kult der Göttin Yellamma eingeführt. Dabei wird ihnen eingeredet, sie seien zur Befriedigung von Männern auserkoren und müßten sich deshalb prostituieren. Während des letzten Festes wurden allein 3.000 Minderjährige in das Devadasi-System eingeführt. Obwohl derartige Praktiken gesetzlich verboten sind, regelt die Polizei in Belgaum weiter den Straßenverkehr und die Menschenmassen, anstatt die Zeremonie zu unterbinden.

Gesetze werden umgangen

Trotz strenger Gesetze werden jeden Tag mehr Kinder zur Prostitution gezwungen. Um der Situation Herr zu werden, wurde ein Gesetz zur „Verhinderung unmoralischer Geschäfte“ (PITA) erlassen, das jeden mit bis zu sieben Jahren Gefängnishaft bestraft, der Kinder zur Prostitution zwingt. Aber Bordellbesitzer und Zuhälter nutzen Gesetzeslücken aus und arbeiten oft Hand mit der Polizei und den Behörden. In Kalkutta wurde zum Beispiel während der letzten Jahre nicht ein einziger Fall von Kinderprostitution amtlich registriert. Weil die Bordellbesitzer hohe Bestechungsgelder an Beamte und korrupte Polizisten zahlen, werden sie über geplante Razzien rechtszeitig informiert.

„Außer schönen Reden oder der Herausgabe von Sonderbriefmarken hat sich an der oft schlimmen Lage indischer Mädchen auch im „Jahr des Mädchens“ nicht viel verändert“, konstatiert eine Kritikerin.